Lockdown ist nicht bis Ostern durchzuhalten

Christian Lindner

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Herr Lindner, ist die Not noch nicht groß genug, oder warum wird die Bundeswehr nicht verstärkt eingesetzt, um bei Schnelltests und anderem in Altenheimen zu helfen?

Lindner: Für mich ist das unverständlich. Die Bundeswehr hat die Befähigungen. Im Wege der Amtshilfe gibt es auch rechtlich keine Hürde. Wir sollten alle Möglichkeiten ausschöpfen, um Leid und schwere Krankheitsverläufe zu mindern. Der Schutz besonders gefährdeter Menschen ist zudem eine wichtige Voraussetzung, damit im Frühjahr Schritt für Schritt öffentliches, kulturelles und wirtschaftliches Leben geöffnet werden kann. Die augenblickliche Notbremsung wäre nicht bis Ostern durchzuhalten.

Warum nicht?

Lindner: Die sozialen Folgen der Isolation und der wirtschaftliche Schaden nehmen von Tag zu Tag zu. Wir müssen eine Pleitewelle in der Wirtschaft und den Schuldensumpf beim Staat verhindern. Ab dem Jahresanfang sollten wir für die Erholung arbeiten. Es darf keine neuen Belastungen für Arbeitsplätze geben, im Gegenteil müssen wir bei Bürokratie, Steuern und Energiekosten entlasten. Mein Gefühl ist, dass vielen Menschen eine Perspektive fehlt, wie es nach dem 10. Januar weitergeht. Diese Perspektive muss die Politik liefern, damit die Akzeptanz der Maßnahmen erhalten bleibt.

Nehmen wir an, Sie wären Bundeskanzler und würden sich am 5. Januar mit den Länderchefs treffen, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Was würden Sie Vorschlägen?

Lindner: Das Erste wäre ja, den Schutz der Risikogruppen zu verstärken. Die Abgabe von FFP2-Masken und Schnelltests haben wir schon im Sommer angeregt, jetzt kam das. Es gibt aber weitere Ideen wie Taxigutscheine, damit Gefährdete nicht mit dem Bus fahren müssen. Zweitens müssen wir mehr und schneller Impfdosen beschaffen. Über die Impfzentren hinaus sollten die niedergelassenen Ärzte impfen können, um das Tempo zu erhöhen. Drittens sind die digitalen Möglichkeiten nicht ausgeschöpft, weder bei der Warn-App noch in der Verwaltung. Und viertens sollten Luftfilter in Schulen, Gastronomie und Veranstaltungsorten gefördert werden. Dann sehe ich eine Chance auf Öffnungen im Frühjahr.

Das heißt aber, dass der Lockdown weit über den 10. Januar hinaus gelten muss?

Lindner: Ich sehe nicht, dass das Kanzleramt überhaupt an ein Ausstiegsdatum denkt. Die jetzige Notbremse wäre vermeidbar gewesen, wenn man im September mit dem Schutz der Risikogruppen begonnen hätte. Das ist seinerzeit zwar abgelehnt worden, aber jetzt sollte dieser Gedanke aufgenommen werden.

Wo die Zahl der Infizierten hoch ist, sagen Virologen, gelingt aber auch in anderen Ländern der Schutz der Risikogruppen nicht ...

Lindner: Virologen wie Herr Schmidt-Chanasit empfehlen anderes. Man sollte beides kombinieren, also den besonderen Schutz der Risikogruppen mit Vorsichtsregeln und Hygienekonzepten in der Breite. Mit Notbremsungen für alle kämen wir aber in einen Stop-and-go-Modus bis zum Winter des kommenden Jahres.

Sind Maßnahmen nicht immer erst dann durchsetzbar, wenn die Zahlen schon hoch sind?

Lindner: In Ihrer Frage schwingt die Position von Frau Merkel mit, die ja vorwiegend auf Schließungen setzt. Wie gesagt, hier melde ich Bedenken an. Maßnahmen gegen das Virus sollten irgendwann intelligenter sein als schlicht Runterfahren des Landes. Beispielsweise ist die Kontaktreduzierung nötig. Das spricht aber nicht dagegen, bald wieder die Teile der Gastronomie zu öffnen, die Abstand und Hygiene gewährleisten können.

Jetzt ist das Virus mutiert. Kann es angesichts der sich ständig ändernden Lage eine Langfrist-Strategie überhaupt geben?

Lindner: Ja. Langfrist-Strategie bedeutet für mich regional flexibles, aber berechenbares Vorgehen. Bevölkerung und Behörden müssen wissen, was zu tun ist, wenn vor Ort zum Beispiel die Inzidenz von 199 auf 201 Fälle steigt. Dann sollten standardmäßig neue Maßnahmen eingeleitet werden. In der Corona-Warn-App könnte das den Menschen ortsbezogen mitgeteilt werden. Im Sinne einer Wenn-dann-Regel sollte das vom Deutschen Bundestag gesetzlich festgelegt werden. Die gegenwärtig erheblichen Eingriffe in Grundrechte erfolgen ohne klare Lenkung durch den Gesetzgeber. Damit ist der Handlungsspielraum der Regierung ohne Parlamentsbeteiligung zu groß.

Ab 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner gelten doch Regeln ...

Lindner: Das ist viel zu grob. Es gibt ja einen großen Unterschied im Geschehen zwischen 50 und 200. Ganz abgesehen davon, dass die Zahl 50 eine rein politische Festlegung ist, die sich an der Personalsituation der Gesundheitsämter orientiert. Wir brauchen ein feineres Raster.

Warum soll das sinnvoll sein, solange man nicht weiß, wo genau sich Menschen anstecken?

Lindner: Bei der Zahl von 50 sind die Infektionsketten nachvollziehbar. Bei einem Infektionsgeschehen von 200 Fällen dagegen in der Regel nicht. Deshalb unterscheidet sich da auch deutlich, welche Freiheitsbeschränkungen verhältnismäßig sind und welche nicht. Wenn wir ab Januar nach der Notbremse stärker regional differenzieren können, wäre das ein weiterer Baustein für eine schrittweise Öffnung.

Hat die Politik die Pandemie unterschätzt?

Lindner: Das würde ich niemandem so pauschal unterstellen. Auch Fehlurteile kann man in einer dynamischen Lage niemandem vorwerfen. Aber Fehler müssen dann eben auch korrigiert werden.

Hat die FDP die Pandemie denn richtig eingeschätzt?

Lindner: So wie ich auf pauschale Vorwürfe bei anderen verzichte, nehme ich für uns nicht pauschal Unfehlbarkeit in Anspruch. Renommierte Leitartikler erkennen aber, dass die FDP eine höhere Sensibilität als andere hat beim Thema Freiheitseinschränkungen und Parlamentsbeteiligung. Das ist auch unsere Rolle. Wenn wir alles so sähen wie CDU und Grüne, dann brauchte es ja keine Freien Demokraten. Und mit konkreten Anregungen und Alternativvorschlägen leisten wir Beiträge aus der Opposition im Bund, die später öfter in Regierungshandeln eingeflossen sind.