Wir sind im Herbst der Entscheidungen.
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Herr Minister, ist Hans-Dietrich Genscher ein Vorbild für Sie?
Lindner: Ja.
Warum?
Lindner: Hans-Dietrich Genscher hat in der Außenpolitik andere nicht belehrt, sondern den Ausgleich gesucht und im Interesse unseres Landes mit langem Atem vertrauensbildend gewirkt. In der Innenpolitik hatte er den Mut, die Existenz unserer Partei zu riskieren, um dem Land 1982 den nötigen marktwirtschaftlichen Politikwechsel zu ermöglichen.
Ist die FDP nach 1982, als Bundeskanzler Helmut Schmidt durch Genschers Kündigung der sozialliberalen Koalition stürzte, heute wieder in dieser Situation?
Lindner: Auch in meiner Generation haben wir den Mut, für unsere Überzeugungen einzutreten. Denken Sie an 2012 im Landtag NRW, als wir uns lieber für neue Wahlen als für neue Schulden entschieden haben. Manchmal bedeutet Mut, trotz Kontroversen in einer Koalition zu bleiben, weil Stabilität wichtig ist und noch Gutes bewirkt werden kann. Manchmal bedeutet Mut aber auch, ins Risiko zu gehen, um neue politische Dynamik zu schaffen.
Diese Situation ist bei der Ampel jetzt wieder da?
Lindner: Wir sind im Herbst der Entscheidungen. Setzen wir die Wachstumsinitiative ambitioniert um, damit wir eine Wirtschaftswende bekommen? Verständigen wir uns auf einen Bundeshaushalt, der Bildung, Investitionen und Sicherheit stärkt, aber zugleich die Steuerlast für die Bürger senkt und die Schuldenbremse einhält? Erreichen wir mehr Kontrolle und Konsequenz bei der Migrationspolitik und überwinden wir dafür Denkverbote? Daran messen die Bürger die Koalition. Ich auch.
Es gibt in Ihrer Partei viele, die das nicht mehr abwarten wollen. Eine Basisinitiative und viele Fraktionsmitglieder fordern den Ausstieg aus der Koalition. Haben Sie die FDP noch im Griff?
Lindner: Meine Position wird breit geteilt. Deshalb bin ich ja Vorsitzender.
Die FDP könnte am Sonntag in Brandenburg erneut unter die Fünf-Prozent-Hürde fallen. Wie stark bringt Sie das unter Druck?
Lindner: Es gibt in Ostdeutschland stets ein Auf und Ab für uns. Momentan ist unser eigenständiges Profil als Partei für freiheitsliebende, optimistische und leistungsbereite Menschen durch viel Koalitionsstreit verdeckt. Aber wir sind dieselben wie vor der aktuellen Regierung geblieben. Und wir arbeiten jeden Tag für die Zusagen, die wir unseren Wählern gegeben haben.
Was bedeutet die Kanzlerkandidatur von CDU-Chef Merz für die FDP?
Lindner: Das ist offen. Die CDU hat ihre Personalfrage geklärt, aber nicht ihre Sach- und Koalitionsfragen. Kehrt die CDU zurück zu einer ambitionierten Reformagenda wie einst beim Leipziger Parteitag oder wird die Ära Merkel mit einer Politik der Beruhigung und Verteilung fortgeführt? Wie ist wirklich die Haltung der CDU zur Schuldenbremse? Wir wissen, dass Markus Söder Schwarz-Grün ausschließt, dass sich Friedrich Merz aber alles offenhalten will.
FDP-Generalsekretär Djir-Sarai hat im Bundestag gesagt, die FDP sei der Union in der Migrationspolitik näher. Hätte die FDP Schwarz-Gelb gern wieder?
Lindner: Ich nehme wahr, dass die CDU die Migrationspolitik von Angela Merkel korrigiert und auf eine Linie einschwenkt, die die FDP seit 2015 vertritt. Wir werden die Weltoffenheit unseres Landes nur bewahren, wenn wir zugleich Ordnung durchsetzen. Wir haben schon einiges erreicht, etwa das neue EU-Asylsystem, die Bezahlkarte für Asylbewerber, die komplette Streichung der Sozialleistungen für Dublin-Flüchtlinge oder die Grenzkontrollen. Aber weitere Schritte müssen folgen. Ich appelliere an CDU/CSU, SPD und Grüne, dass wir das gemeinsam tun, denn niemand wird parteipolitisches Kapital aus der Migrationsfrage gewinnen außer den Rändern aus AfD und BSW.
Welche weiteren Schritte müssen jetzt noch kommen?
Lindner: Justizminister Marco Buschmann hat vorgeschlagen, modellhaft eine Form der Zurückweisung an deutschen Grenzen einzuführen. Zudem muss alles diskutiert werden, was die Magnetwirkung des deutschen Sozialstaats reduziert. Beispielsweise wird der Regelsatz der Grundsicherung für Asylbewerber kommendes Jahr um 13 bis 19 Euro gesenkt, da die Inflation niedriger ist als erwartet.
Während Sie Steuerentlastungen für die Bürger durchgesetzt haben, steigen auf der anderen Seite die Sozialbeiträge stark. Werden Ihre Bemühungen nicht konterkariert?
Lindner: Die steigenden Sozialbeiträge besorgen mich. Es zeigt sich der demographische Wandel, aber auch die nicht nachhaltig finanzierten Leistungsversprechen früherer Regierungen. Mich lässt das nicht kalt. Deshalb müssen wir umsteuern. Bei der Rente brauchen wir beispielsweise mehr Anreize für das Arbeiten jenseits des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Im Bereich der Gesundheit sollen Digitalisierung und die Reform der Krankenhäuser langfristig die Effizienz verbessern.
Warum halten Sie so stoisch am Rentenpaket fest, das den Beitragsanstieg noch beschleunigen wird?
Lindner: Die Prognosen zum Beitragsanstieg im nächsten Jahrzehnt gehen davon aus, dass sich bis dahin nichts mehr ändert. Das ist nicht meine Erwartung. Das aktuelle Rentenpaket ist ausdrücklich nicht das Ende der Reformen. Jetzt halten wir uns aber an Verabredungen. Wir schreiben die Haltelinie von 48 Prozent bis Ende des nächsten Jahrzehnts fest, dafür führen wir erstmals eine kapitalgedeckte Säule in der Rentenversicherung ein. Zudem stärken wir die private Altersvorsorge durch ein neues, auch mit Aktien befüllbares Depot, das steuerlich gefördert wird. Das gehört alles in einen Zusammenhang.
Das neue, sogenannte „Lindner-Depot“ für alle Sparer, oder?
Lindner: Ihren Kosenamen kommentiere ich nicht, aber wir werden die Riester-Rente durch die Wahlmöglichkeit für ein attraktiveres Instrument ergänzen.
Was würde so ein Lindner-Depot den Menschen konkret bringen?
Lindner: Die Menschen können in Wertpapiere ihrer Wahl investieren. Der Staat fördert jeden angelegten Euro mit 20 Cent bis zu einer Größenordnung von 3000 Euro im Jahr. Maximal können Sparer also 600 Euro vom Staat zusätzlich für ihre Altersvorsorge erhalten. Alle Erträge im Depot bleiben steuerfrei. So kann der Zinseszins-Effekt über Jahrzehnte voll wirken. Erst bei der Auszahlung im Alter wird wie bei der gesetzlichen Rente Steuer fällig. Über die lange Zeit können Millionen Menschen so erhebliches Vorsorgekapital aufbauen.
Haben Sie Beispielrechnungen?
Lindner: Experten haben errechnet, dass man nach 40 Jahren sogar Millionär sein kann, wenn man 250 Euro im Monat spart und damit die staatliche Förderung voll ausnutzt.
Es gibt aktuell einen Dissens über die Verwendung der frei gewordenen Mittel für die US-Chip-Fabrik von Intel in Magdeburg, deren Bau nun verschoben wird. Während Sie die zehn Milliarden für den Haushalt verwenden wollen, will Vize-Kanzler Habeck sie im Klimafonds (KTF) lassen. Wie geht das aus?
Lindner: Das Intel-Projekt wurde noch von Frau Merkel zu einer anderen Zeit auf den Weg gebracht. Die jetzige Entscheidung von Intel wird nur wenige komplett überrascht haben. Sie ist kein Anlass, jetzt sofort wieder über neue Subventionen, Programme und Ausgaben zu diskutieren. Wir müssen diese Mittel zunächst für die Lösung der noch offenen Fragen im Bundeshaushalt reservieren. Ohnehin werden wir erst Ende Oktober Klarheit haben, wenn die Wirtschaftsprognose für das nächste Jahr und die aktuelle Steuerschätzung vorliegen. Der Vorgang Intel ist vielleicht eine Gelegenheit, generell über die Anlage der Wirtschaftspolitik nachzudenken. Nach meiner Überzeugung sollten wir künftig wieder stärker Handwerk, Mittelstand und Industrie in der Breite stärken, indem wir bei Steuer, Bürokratie, Energiekosten und Digitalisierung die Bedingungen verbessern.
Bei SPD und Grünen verweist man auf eine Verabredung in der Koalition für ein mögliches Aussetzen der Schuldenbremse, sollte es in der Ukraine noch schlimmer kommen und sich daraus eine Notlage für Deutschland ergeben. Stehen Sie dazu?
Lindner: Mir ist eine solche Verabredung nicht bekannt. Einen solchen Vorratsbeschluss hätte ich auch nicht akzeptiert. Was mir bekannt ist, dass SPD und Grüne dies in der Haushaltsdebatte wieder oft gefordert haben. Der schreckliche Krieg in der Ukraine ist aber keine Notlage im Sinne des Grundgesetzes, sondern Teil der neuen geopolitischen Realität, in der wir länger leben werden. Für die Ukraine arbeiten wir neben unserer bilateralen Hilfe deshalb intensiv an einem 50-Milliarden-Dollar-Programm der G7-Staaten.
Hat das Bundesfinanzministerium einen Fehler beim Verkauf der Commerzbank-Anteile gemacht, weil die italienische UniCredit die Bank übernehmen könnte?
Lindner: Ich habe politisch immer klar gemacht, dass der Staat nicht auf Dauer an einer privaten Bank beteiligt sein darf. Konkrete Entscheidungen zum Verkauf und zum Verfahren trifft der interministerielle Lenkungsausschuss.
Hat Sie das Manöver der UniCredit überrascht, die ihre Anteile rasch ausgebaut hat?
Lindner: Das europäische Recht verbietet, einen Bieter zu diskriminieren. Wir werden nun in der Bundesregierung über das weitere Vorgehen beraten.