Wir müssen auf innovativere Maßnahmen setzen

Christian Lindner
Handelsblatt

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Herr Lindner, Sie klagen beim Corona-Krisenmanagement der Bundesregierung über eine „Missachtung des Parlaments“. Woran machen Sie das fest?

Lindner: Die Bundeskanzlerin geht lieber in die Bundespressekonferenz, als sich einer Debatte im Bundestag zu stellen. Die Bundesregierung versäumt damit eine Chance. Denn im Parlament werden die Fakten hinterfragt und alternative Strategien vorgeschlagen. Und die gibt es. Seit Monaten haben wir etwa Vorschläge zum besseren Schutz von Risikogruppen gemacht. Wir haben einen Impfgipfel vorgeschlagen, um Logistik und Tempo zu erhöhen. Der ist offensichtlich überfällig. Wir haben auch ein Impfgesetz vorgelegt, um die Reihenfolge auf gesetzlicher Basis abzusichern. Die Beteiligung des Bundestags stärkt also nicht nur die Akzeptanz in der Bevölkerung. Sie kann auch zu besseren Entscheidungen führen.

Herr Altmaier, warum bindet die Bundesregierung den Bundestag dann nicht stärker ein?

Altmaier: Die Entscheidungen der Bundesregierung in der Corona-Bekämpfung sind öffentlich und transparent. Der Bundestag kann jederzeit über alle Aspekte der Corona-Pandemie debattieren, und genau das findet im Plenum und in den Ausschüssen seit Monaten statt. Im Übrigen entscheidet der Bundestag in den meisten Fragen selbst über das Maß seiner Beteiligung. So war es zum Beispiel auch in der Europapolitik, wo es heute üblich ist, dass die Bundesregierung vor einem Europäischen Rat das Parlament aus erster Hand informiert.

Warum gibt Kanzlerin Angela Merkel nicht auch vor den Bund-Länder-Runden zu Corona Regierungserklärungen im Bundestag ab?

Altmaier: Bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie geht es ganz überwiegend nicht um Zuständigkeiten des Bundes, sondern um Zuständigkeiten der Länder, etwa im Hinblick auf Schulen, Universitäten oder Pflegeeinrichtungen. Es würde die Gespräche erschweren, wenn die Bundesregierung im Vorfeld öffentlich Pflöcke einrammen würde und den Ländern Ratschläge gäbe. Es ist aber selbstverständlich, dass der Bundestag über alle Beschlüsse informiert wird. Die FDP-Fraktion hatte übrigens eine Sondersitzung vor der jüngsten Ministerpräsidentenkonferenz beantragt, der sich aber nicht einmal alle Oppositionsfraktionen angeschlossen haben.

Lindner: In der Praxis stehen sich nicht Verfassungsorgane, sondern Koalition und Opposition gegenüber. Bei den Grünen ahne ich die Motive. Bei CDU und CSU hätte ich erwartet, dass Respekt vor dem Parlament ein eigenes Anliegen ist. Wir hätten gerne von der Regierung gehört, ob unser Land bis zum September im Stillstand verharren soll, weil erst dann die sogenannte Herdenimmunität erreicht wird. Die sozialen und wirtschaftlichen Schäden wären enorm. Wir müssen an einem Stufenplan arbeiten und auf innovativere Maßnahmen setzen. Mir ist zum Beispiel ein Rätsel, warum die Reservisten der Bundeswehr, die sich freiwillig gemeldet haben, nicht zur Verstärkung der Pflegeheime und der Gesundheitsämter eingesetzt werden. Mit Hygienekonzepten, Maskenpflicht, Luftreinigern, Schulunterricht im Kinosaal, der Ausdehnung der Schnelltests oder der Digitalisierung der Gesundheitsämter sind schrittweise Öffnungen verantwortbar.

Die Entscheidungen werden de facto von der Bundeskanzlerin und den 16 Ministerpräsidenten getroffen, in einer Runde, die so im Grundgesetz nicht vorgesehen ist. Da können Sie darin blättern, solange sie wollen.

Altmaier: Gerade deswegen kann die MPK auch keinerlei verbindliche Anordnungen treffen. Im föderalen Bundesstaat muss es aber einen Ort geben, an dem unterschiedliche Auffassungen besprochen und zusammengeführt werden. Denn die Bürger erwarten zu Recht, dass es bei der Pandemie-Bekämpfung eine gemeinsame Linie von Bund und Ländern gibt. Die eigentlichen Gesetze werden aber vom Bundestag beziehungsweise von den Landtagen gemacht.

Lindner: Wir brauchen ein vergleichbares Vorgehen. Aber nicht im Sinne pauschaler und flächendeckender Maßnahmen für alle. In Eckernförde ist die Lage anders als in Passau. Der Deutsche Bundestag sollte den Exekutiven dabei aber Leitplanken vorgeben. Wir haben eine gesetzliche Wenn-dann-Regel vorgeschlagen, die einem regionalen Infektionsgeschehen konkrete Maßnahmen zuordnet. Das hat einen doppelten Nutzen: Zum einen erfolgen Grundrechtseingriffe auf gesetzlicher Grundlage, zum anderen haben die Behörden vor Ort Handlungssicherheit in einer dynamischen Lage.

Altmaier: Jetzt kommen wir zum Kern der Frage: Soll der Bundestag darüber befinden, ob die Staatsregierung in Bayern Ausgangsbeschränkungen verhängen darf? Das berührt Grundfragen des Föderalismus, der eben auch von der Selbstbeschränkung der jeweiligen staatlichen Ebene lebt. Als sich der Bund vor der Ministerpräsidentenkonferenz im Oktober erlaubt hat, Einschränkungen im Schulunterricht vorzuschlagen, waren die Länder so verärgert, dass das Treffen ohne Ergebnis auseinandergegangen ist.

In der Praxis läuft es doch stets nach diesem Muster: Das Kanzleramt schreibt eine Entscheidungsvorlage, die Ministerpräsidenten weichen die Vorschläge dann in der Runde mit Frau Merkel auf und machen anschließend in ihren Ländern oft, was sie wollen. Zeigen sich hier nicht die Grenzen des Föderalismus?

Altmaier: Föderalismus ist ein hohes Gut, aber er ist anstrengend und zeitintensiv. Und dennoch zeigt die Erfahrung, dass föderal regierte Länder in aller Regel die Probleme besser und effektiver bewältigen als zentralistisch organisierte Länder.

Stimmt. In der Regel. Eine weitere unrühmliche Ausnahme sind die Wirtschaftshilfen: Wie hätte man die besser organisieren können, um das entstandene Chaos zu verhindern?

Altmaier: Ich verstehe, dass Unternehmen, die täglich um ihr Überleben kämpfen, Kritik daran üben, dass die Bewilligung von Hilfsgeldern oft einige Wochen dauert. Von Chaos kann aber nicht die Rede sein: Seit Beginn der Pandemie im letzten Frühjahr wurden bereits rund 80 Milliarden Euro an Hilfsgeldern bewilligt und ausgezahlt: Kredite und Schnellkredite, Bürgschaften, Zuschüsse zu Kosten und Fixkosten, bis hin zur Erstattung von Umsatzausfällen in besonders betroffenen Branchen wie Gastronomie und Hotellerie. Der Bund hat eigens eine digitale Plattform eingerichtet, damit die Abläufe beschleunigt werden. Noch schneller wären eine Beantragung und Auszahlung zum Beispiel über die Finanzämter gewesen, aber davon haben die Länder und der Bundesfinanzminister Abstand genommen. Nachdem die zeitraubenden Vorarbeiten nun gemacht sind, geht auch die Auszahlung der neuen Hilfen rasch voran. Inzwischen haben wir mehr als drei Milliarden Euro an Zahlungen allein für November und Dezember geleistet und damit vielen helfen können.

Herr Lindner, geben Sie sich mit der Antwort von Herrn Altmaier zufrieden?

Lindner: Ich höre von den Wirtschaftsministern der Länder große Unzufriedenheit über das Bundeswirtschaftsministerium, weil die digitale Plattform und das Fachverfahren mit Verzug umgesetzt worden sind. Selbst CDU-Minister in der Wirtschaftsministerkonferenz haben hinter verschlossener Tür die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen.

Altmaier: Was Sie alles hören. Die Zusammenarbeit in der Wirtschaftsministerkonferenz ist sehr intensiv und vertrauensvoll. Wir haben die Hilfen auf Anregung der Kollegen immer wieder verbessert und an das Pandemiegeschehen angepasst. Wenn wir, wie von mir ursprünglich gewollt, von Anfang an höhere Abschlagszahlungen bei den November- und Dezemberhilfen vorgesehen hätten, hätten wir noch schneller und wirksamer helfen können. Aber dagegen gab es an anderer Stelle Widerstand.

Durch Bundesfinanzminister Olaf Scholz, meinen Sie?

Altmaier: Dennoch habe ich als Wirtschaftsminister meinen Buckel hingehalten, denn wir dürfen nicht lamentieren, sondern müssen handeln: Der entscheidende Punkt ist, dass das Geld bei den Leuten ankommt, und das ist inzwischen in Zehntausenden Fällen geschehen.

Herr Lindner, hat die Bundesregierung ihr Versprechen eingelöst, die Unternehmen nicht im Stich zu lassen?

Lindner: Die vielen Beschwerden sprechen für sich. Wichtig ist, dass jetzt die Hilfen fließen, wenn nötig über höhere Abschlagszahlungen. Zweitens raten wir dazu, den steuerlichen Verlustrücktrag gegenüber den Vorjahren vorzusehen – diese Hilfe über die Finanzämter wäre viel schneller geflossen. Die Verluste der Jahre 2020 und 2021 sollten voll gegen die Gewinne ab 2017 bei der Steuer verrechnet werden. Und drittens müssen wir diskutieren, wie wir nach der Pandemie wieder eine Wachstumsperspektive für unser Land bekommen: Setzen wir dafür auf mehr Bürokratismus und höhere Steuern, oder erneuern wir die Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft?

Altmaier: Ich teile die FDP-Position bei den Verlustrückträgen durchaus und habe das selbst im Konjunkturpaket teilweise schon durchsetzen können. Aber wir müssen uns darüber nun einmal innerhalb der Regierung, also mit einem Koalitionspartner, verständigen. Es macht durchaus inhaltlich einen Unterschied, ob man mit Sozialdemokraten regiert oder mit Liberalen. Ich habe nie verhehlt, dass mich die Entscheidung der FDP aus dem November 2017 betrübt hat, nicht in eine Koalition mit uns einzutreten.

Lindner: Glücklicherweise haben Sie jetzt mit Armin Laschet einen CDU-Vorsitzenden, der weiß, wie man eine faire Koalition bildet. 2017 hätten Sie uns mit der Abschaffung des Solidaritätszuschlags für alle, einem Digitalministerium zur Beseitigung der Defizite, mehr Verantwortung des Bundes bei der Bildung und einem rationalen Einwanderungsgesetz als Koalitionspartner bekommen. Das ist alles dringlicher denn je.

Herr Altmaier, wie halten Sie es mit Steuersenkungen für Unternehmen?

Altmaier: Ich bin dagegen, während oder nach dieser Krise die Steuern zu erhöhen – wir wollen ja, dass die Wirtschaft von allein wieder in Schwung kommt und aus der Krise herauswachsen kann. Da wären Steuererhöhungen reines Gift. Ich bin auch dezidiert dafür, dass wir den Anstieg der Sozialausgaben über 40 Prozent verbindlich verhindern, zumindest bis Ende 2022. Inwieweit wir darüber hinaus Steuersenkungen in Aussicht stellen können, hängt von der weiteren Entwicklung ab. Wer möchte, dass wir weiter Betroffenen helfen und dass wir zu einer soliden Haushaltsführung zurückkehren, der darf nicht alles zur gleichen Zeit versprechen. Diese Fragen werden wir aber in unserem Regierungsprogramm von CDU und CSU adressieren.

Können Sie beide sich eine Koalition mit der FDP nach der Bundestagswahl vorstellen?

Altmaier: Es gibt eine große inhaltliche Schnittmenge zwischen Union und FDP in der Wirtschaftspolitik. Dazu gehört, dass wir die Wirtschaftspolitik noch mehr in den Mittelpunkt öffentlicher Debatten rücken und unsere Unternehmen nicht immer weiter mit Abgaben, Steuern und unnötiger Bürokratie belasten. Ich glaube, dass ich mit meiner Industrie- und Mittelstandsstrategie die Leitlinien für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft in Deutschland aufzeigen konnte. Das Wirtschaftsministerium wird als wichtiger Partner von den Unternehmen angesehen. Es ist offenbar sogar so, dass das Ministerium bei manchen wieder heiß begehrt ist.

Sie meinen damit die Forderung von Friedrich Merz, als Wirtschaftsminister ins Bundeskabinett einzutreten?

Altmaier: Das habe ich gelesen, und es ist ja nicht verboten, Vorschläge zu machen. Aber um auf die FDP zurückzukommen: Ich lege großen Wert darauf, dass die Freien Demokraten aus dem Kanon möglicher Koalitionspartner nicht von vornherein ausgeschlossen werden.

Lindner: CDU und Grüne sind sich im Denken nahegekommen. Die Grünen wollen mit 500 Milliarden Euro neuen Schulden und gesetzlichen Verboten die Wirtschaft umbauen. Und auch in der CDU hört man Töne, die an eine französisch inspirierte Planification erinnern, also eine staatlich geleitete Volkswirtschaft. Ich würde es begrüßen, wenn die neue CDU-Führung eine Renaissance des marktwirtschaftlichen Denkens einleiten würde.

Beziehen Sie Ihre Kritik auch auf den Bundeswirtschaftsminister?

Lindner: Ich messe das an den Taten. Ich hätte etwa den Impfstoffhersteller Curevac nicht verstaatlicht.

Altmaier: Mir liegt viel daran, dass wichtige hochinnovative Unternehmen die Chance haben, deutsche und europäische Unternehmen zu bleiben. Wir haben doch gesehen, dass sich viele Unternehmen wegen des großen Finanzbedarfs ausländische Partner suchen müssen und Know-how und zukunftsfähige Arbeitsplätze abwandern. Biontech war eben in der Lage, seinen Impfstoff zu entwickeln, weil es so eng mit dem finanzstarken US-Unternehmen Pfizer zusammengearbeitet hat.