Stillstand ist unser größter Feind

Christian Lindner
Tagesspiegel am Sonntag

Herr Lindner, Sie haben die Partei 2013 neu aufgestellt. Martin Schulz versucht das gerade mit der SPD. Haben Sie Ratschläge für ihn?

Lindner: Nein. Das wäre reichlich gönnerhaft von mir, denn wir sind ja selbst noch nicht am Ziel. Das ist erst erreicht, wenn wir wieder voll mitspielen können und es im Bundestag wieder eine Stimme gibt, die dem einzelnen etwas zutraut, ihn durch Bildung stark macht, ihn aber vor Bürokratie schützt.

Sie grenzen sich von Martin Schulz ab. Der wolle zurück nach links, haben Sie gesagt, er wolle eine Agenda 1995. Die SPD hat ihr Wahlprogramm noch nicht verabschiedet. Warum die Abgrenzung?

Lindner: Es gibt noch keine SPD-Programm, aber doch klare Konturen. Und die erinnern mich an Francois Hollande. Martin Schulz steht der Politik von Holland näher als der von Gerhard Schröder: Der Staat erteilt der Wirtschaft die Kommandos. Es wird mehr und mehr umverteilt. Der Staat wird immer teurer, notfalls auf Pump. Es wird gleichgemacht in Europa. Mit diesem Programm ist Hollande in Frankreich gescheitert. Ich sehe keinen Grund, warum wir das nach Deutschland importieren sollten. Dem halten wir entgegen, dass wir fragen: Wovon soll Deutschland zukünftig leben? Wie erwirtschaften wir unseren Wohlstand? Wir finden, dass unser Land bei der Digitalisierung und der Modernisierung des Bildungssystems nicht länger Zeit verlieren darf.

Hört sich so an, als würden Sie Schulz für gefährlich halten.

Lindner: Gefährlich ist Frau Merkels Programm des „Weiter so“. Das Programm von Martin Schulz könnte tödlich für die deutsche Wettbewerbsfähigkeit sein und individuelle Aufstiegschancen in der Mitte der Gesellschaft kosten.

Was ist falsch an dem Satz von Martin Schulz, in Deutschland müsse es gerechter zugehen?

Lindner: Nichts! In Deutschland muss es gerechter zugehen - sagt auch Christian Lindner. Ich bin dagegen, dass wir unser Land schwach reden. Aber wir müssen besser werden, etwa wenn ich auf die katastrophalen Bilanzen insbesondere der sozialdemokratischen und grünen Schulminister schaue. Bildung ist der Schlüssel zum Aufstieg. Die teils herrschende Bildungsarmut ist ein Gerechtigkeitsproblem. Wir haben immer noch zu viele Leute, die die Schule ohne Abschluss verlassen. Im internationalen Vergleich sind wir bestenfalls Mittelfeld. Wir müssen den Bildungsföderalismus modernisieren. Damit der Bund auch Schulen in Berlin und Bonn, nicht nur in Burundi und Botswana sanieren darf.

Die SPD will Menschen auch besser qualifizieren

Lindner: Wir haben ein großes Problem bei der verfestigten Langzeitarbeitslosigkeit in Hartz IV. Dazu sagt Herr Schulz nichts. Die Lösung für diese Menschen ist, dass sie sich schrittweise aus dem Sozialleistungsbezug herausarbeiten können. Wenn sie eine Stunde länger im Minijob arbeiten, soll ihnen das auch zugutekommen. Stattdessen haben wir einen Sozialstaat, der die Leute wie ein Magnet festhält, weil ihnen jede zusätzliche Arbeitsstunde, die sie leisten, voll auf ihren Hartz-Bezug angerechnet wird. Das verhöhnt den Einsatz der Leute, die sich selbst rausarbeiten wollen.

Driftet die deutsche Gesellschaft auseinander?

Lindner: Die Vermögensschere geht auseinander. Das hängt auch mit den niedrigen Zinsen zusammen. Der niedrige Zins treibt die Preise für Häuser und Wohnungen. Wer eine Wohnung hat, wird reicher. Wer keine Wohnung besitzt, wird nicht reicher. Da müssen wir etwas ändern. Nur für gut die Hälfte der Bevölkerung ist Wohneigentum erreichbar. Bei Jüngeren geht die Quote sogar zurück. Warum? Die Leute bekommen bis zum 40. Geburtstag nicht mal mehr das Eigenkapital zusammen. Denen wird in einem normalen Job durch Steuern und Sozialabgaben so viel abgenommen, dass sie keine Finanzierung einer Wohnung zustande bekommen, wenn sie nicht erben. Deshalb müssen wir die Mitte bei den Sozialabgaben und den Steuern entlasten. Unser Vorschlag ist ein Freibetrag bei der Grunderwerbsteuer von 500.000 Euro. Wer eine Wohnung oder ein Haus zur Eigennutzung erwirbt, soll erst ab einem Wert von 500.000 Euro überhaupt diese Steuer bezahlen müssen.

Wo muss der Staat stärker werden, und wo soll er sich raushalten?

Lindner: Wir brauchen weniger Staat beim bürokratischen Hemmnissen im Alltag. Mehr Staat brauchen wir bei der Sicherheit. Der Rechtsstaat muss handlungsfähig werden. Da gibt es einen Bedarf von etwa 15000 Beamten. Die Sicherheitslage hat sich verändert. Ich meine nicht nur die terroristische Bedrohung, sondern auch eine sich ausbreitende Einbruchskriminalität. Ich begrüße, dass die Bundesregierung das Strafmaß hierfür erhöht hat. Jetzt muss es aber auch Beamte geben, die fahnden.

Sie sprechen immer von der „ungeduldigen Mitte“. Wer ist das?

Lindner: Menschen wie Sie und ich, die sich nicht mit dem Status quo abfinden wollen. Menschen, die glauben, dass die besten Tage unseres Landes noch vor uns liegen, wenn wir daran arbeiten. Die Menschen, die hart arbeiten, nach den Regeln spielen und unseren Staat maßgeblich tragen. Die sich nicht von irgendwelchen Rechtspopulisten verführen lassen, die sich aber über die Trägheit der Politik ärgern, weil sie wissen: Die Rente wird vielleicht für mich, jedenfalls für meine Kinder nicht funktionieren. Das Bildungssystem ist ein Skandal, wenn ich die Klassenräume selber streichen soll, weil der Staat es nicht kann, aber Geld da ist für irgendwelche Berliner Flughäfen. Es kann doch nicht sein, dass ich im Urlaub in den baltischen Staaten an jeder Bushaltestelle Breitband-WLAN habe, und hier in Deutschland in einer mittelgroßen Stadt immer noch mit Kupferkabel abgespeist werde. Wo leben wir? Warum kann ich meine Steuererklärung nicht online machen? Warum bekomme ich das polizeiliche Führungszeugnis für eine Bewerbung nicht in 15 Minuten als PDF? Das ist die ungeduldige Mitte. Das sind keine Wutbürger, sondern Leute, die sagen: nicht reden – machen. Der Stillstand ist deren größter Feind.

Haben die Deutschen zu viel Angst vor der Zukunft?

Lindner: Die Politik macht ihnen Angst. Martin Schulz sagt dem 50-jährigen Mann doch in Wahrheit: Deine Angst, den Job zu verlieren, ist berechtigt. Da wird dann zur Verheißung ausgerufen: länger Geld vom Staat. Die größte Gefahr für diesen 50-Jährigen sind die Programme von Herrn Schulz. Wer als Facharbeiter qualifiziert ist, findet in der Regel nach dreißig Wochen eine neue Arbeit. Die größte Gefahr ist, vier Jahre in eine Qualifikation gesteckt zu werden. Dann ist man weg vom Fenster.

Regiert Frau Merkel gut mit dieser verängstigten duldsamen Mitte?

Lindner: Ich spreche in der Vergangenheit und sage ja. Frau Merkel hatte die große Fähigkeit, Deutschland zu beruhigen, Konflikte zu moderieren. In der Flüchtlingskrise hat sie dieses Zutrauen verloren, weil sie eine anti-liberale Politik gemacht hat. Denn nichts ist liberal daran, einfach Grenzen zu öffnen und Regeln aufzuheben. Liberalität lebt von der Berechenbarkeit staatlichen Handelns und von klaren Regeln.

Sie haben mit Blick auf die NRW-Wahl gesagt, für eine CDU- und eine SPD-geführte Regierung gelte, „dass wir lieber in die Opposition gehen, wenn wir unsere Handschrift nicht zeigen können“. Gilt das auch im Bund?

Lindner: Natürlich! Dieses Jahr gibt es die Chance, die FDP zu reetablieren. Wir bauen uns mühsam neues Vertrauen auf. Das werde ich sicher nicht dadurch belasten, dass wir vor der Wahl vieles in Aussicht stellen, aber es nach der Wahl nicht halten können. Ich werde meiner Partei nicht etwas empfehlen, das unsere Unterstützer als komisch empfinden…

Komisch?

Lindner: …komisch wäre, die FDP würde sich einer Regierungsbeteiligung verweigern, wenn man das Land besser machen kann. Komisch wäre, die FDP würde Dienstwagen anstreben, wenn man nichts verbessern kann.

Das hieße, eine rot-gelb-grüne Regierung im Bund wäre nicht ausgeschlossen.

Lindner: Wir werden ohne Koalitionsaussage in die Wahl gehen. Das heißt aber nicht, dass wir beliebig sind, sondern berechenbar in der Sache. Wir werden vor der Bundestagswahl konkrete Projekte definieren, die uns wichtig sind. Wir messen Gespräche dann daran, was wir mit wem davon umsetzen könnten. Ich schließe nichts aus, wenn sich die SPD, statt rückwärtsgewandt zu reden, auf Vorwärts besinnt – aber im Moment bewegt sie sich ja von uns weg. Stand jetzt haben wir die größten inhaltlichen Überschneidungen mit der CDU.

Wie viel Grün steckt eigentlich in der FDP?

Lindner: Die FDP hat in Deutschland Umweltpolitik geprägt, als Joschka Fischer noch mit Steinen auf Polizisten geworfen hat. Unser Umweltschutz nutzt die Kreativität der Menschen und das Wettbewerbsprinzip des Marktes, um ökologische Ziele zu erreichen. Wir sind keine Freunde von Bürokratismus und Detailsteuerung.

Das heißt was?

Lindner: Wir stellen den Klimaschutz nicht in Frage. Wenn es aber um die Mobilitätswende geht, habe ich Zweifel, ob es beispielsweise sinnvoll ist, einseitig auf die Elektromobilität zu setzen, solange der Strom zu 40 Prozent aus der Kohle kommt und die seltenen Erden in den Batterien nicht aus den stabilsten Regionen dieser Welt. Es könnte sinnvoll sein, an andere Technologien wie die Brennstoffzelle oder Wasserstoff zu denken oder an synthetische Kraftstoffe. Solche marktwirtschaftlichen ökologischen Modelle diskutieren die Grünen ja gar nicht mehr. Die Grünen sind eine Anti-Markt-Partei.

Die Grünen waren sehr erfolgreich mit dem Thema Ökologie

Lindner: Leider ist es in Deutschland so, dass ökologisches Denken heute synonym geworden ist mit linkem Denken, und zwar, weil wir als Liberale das Ende der siebziger Jahre vernachlässigt haben. Dann haben die Grünen das besetzt und haben ökologische Verantwortung gemischt mit linkem Dirigismus. Denen geht es nicht um ökologisches Bewusstsein, sondern um eine bestimmte vorrangige gesellschaftliche Auffassung. Man versucht, mit dem erhobenen Zeigefinger einer moralischen Überlegenheit alle Unterschiede komplett zu nivellieren, Stichwort Unisex-Toiletten.

Sie sind für ein modernes Einwanderungsgesetz. Die SPD ist auch dafür. Kann die FDP die Union in einer Koalition eher dafür gewinnen, als es die SPD kann?

Lindner: Alle Parteien verstehen Unterschiedliches unter Einwanderungsgesetz. Wir verstehen darunter, dass die Hürde für qualifizierte Zuwanderung gesenkt werden muss. Es muss leichter möglich sein, mit einem guten Bildungsabschluss nach Deutschland zu kommen und hier sich im Arbeitsmarkt zu etablieren. Die CDU könnte dafür auch zu gewinnen sein, wenn sie versteht, dass wir damit auch Kontrolle verbinden.

Das bedeutet?

Lindner: Wir möchten, dass Flüchtlinge nicht durch das Asylverfahren gehen, sondern direkt einen Aufenthaltsstatus bekommen, pauschal, schnell, mit der Förderung der Arbeitsaufnahme – aber dass der Aufenthalt begrenzt ist. Ich bin auch bereit, gewisse Härten bei der Aufnahme und Abschiebung in Kauf zu nehmen, wenn die Heimat von Flüchtlingen wieder sicher ist. Für einen dauerhaften Aufenthalt muss man sich bewerben, weil wir, anders als in den USA, einen entwickelten Sozialstaat haben. Dort zwingt der harte Kampf im Alltag die Menschen zur Integration. Wir haben einen humanen Sozialstaat, aber wenn wir uns nicht aussuchen, wer bei uns bleibt, würden wir einen Karrierismus im Wohlfahrtsstaat fördern, in dem sich Leute abkoppeln und blickdichte Parallelwelten alimentiert werden.

Herrschte in Syrien irgendwann wieder Frieden und wollte der integrierte syrische Mechaniker hier bleiben, müsste er Deutscher werden wollen?

Lindner: Nein, muss er nicht als Erstes, aber er muss sich um einen dauerhaften Aufenthaltstitel bewerben, und dieser von Ihnen angenommene Fall hätte ja auch kein Problem.

Wer dann?

Lindner: Derjenige, der hier fünf Jahre war, der nur schlecht Deutsch spricht und keiner Arbeit nachgeht, der muss mit seiner gesamten Familie zurück nach Syrien.

Für was steht aus Ihrer Sicht die CDU?

Lindner: Schwierig. Die CDU hat keinen gesellschaftlichen Entwurf, der nach vorne gerichtet ist. Sie steht auf der Stelle. Was ist das Projekt von Angela Merkel, mit dem sie ihre weitere Kanzlerschaft begründet hat? Nur mit der Alternativlosigkeit, aber das ist das schwächste Argument für alles.

Ist Merkel eine linke Christdemokratin?

Lindner: Sie ist eine Sozialdemokratin und eine sozialdemokratische Kanzlerin. Denn Sozialdemokratie heißt weniger auf Dynamik, mehr auf Ausgleich zu setzen - mehr auf Gleichheit als auf Freiheit, mehr auf Verteilen als auf Erwirtschaften, mehr auf das Kollektiv als auf den Einzelnen. Ich will aber betonen, dass es legitim ist, Sozialdemokrat zu sein.

Wer verändern will, muss regieren. Welches Ministerium würde Sie reizen?

Lindner: Mein Ziel ist, die FDP wieder in den Bundestag zu führen.