Schulen und Kitas müssen so schnell wie möglich öffnen
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Herr Lindner, was erwarten Sie von der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz in Sachen Pandemiebekämpfung und Lockdown?
Lindner: Eine Perspektive und eine durchhaltbare Strategie. Die sozialen und wirtschaftlichen Schäden werden immer größer. Wir müssen deshalb die Politik des Immer-nur-Schließens durch ein innovativeres Vorgehen ersetzen, das gesellschaftliches Leben Schritt für Schritt ermöglicht. Meine Prognose ist zudem: Das weitere Infektionsgeschehen wird sich regional stark unterscheiden. Deshalb sollte auf die flächendeckenden Maßnahmen ein regional unterschiedliches Vorgehen folgen.
Was bedeutet das genau?
Lindner: Deutschland kann von Schleswig-Holstein lernen. Die dort von der FDP mitgetragene Regierung hat einen Stufenplan entwickelt. Im Kern geht es um eine Wenn-dann-Regelung, die eine Infektionslage vor Ort mit Maßnahmen verknüpft. Wenn die Zahlen sinken, dann können Kitas und Schulen wieder starten. Es folgen der Handel und die Gastronomie jeweils mit Schutzvorschriften. Ich verschweige nicht, dass man noch ambitionierter vorgehen könnte als Kiel. Mit Luftreinigern, einer Teststrategie, mehr Digitalisierung und Personalverstärkung durch die Bundeswehr in Gesundheitsämtern und Altenpflegeheimen wäre mehr kontrollierte Öffnung denkbar. Aber gerade als Kompromiss von FDP, CDU und Grünen ist das Papier vielleicht besonders wirksam.
Beschlossen ist der Lockdown bis zum 14. Februar. Wann muss die Entscheidung fallen, wie es weitergeht?
Lindner: Niemand hält Bundesregierung und Länder davon ab, zuvor Klarheit zu schaffen, wie es weitergeht. Zuletzt gab es immer Indiskretionen aus internen Sitzungen der CDU, in denen die Kanzlerin Einschätzungen abgegeben hat. Solche Fragen gehören in das Parlament. Über das Vorgehen sollte offen und mit Vorlauf beraten werden. Nur so können alternative Methoden zur Debatte gestellt werden. Am Ende stärkt das die Akzeptanz der Bevölkerung.
Wann sollen Schulen und Kitas wieder öffnen?
Lindner: Schulen und Kitas müssen so schnell wie möglich öffnen. Der Staat hätte längst Luftreinigungsgeräte für Klassenzimmer beschaffen können. Unterricht kann im leer stehenden Kinosaal stattfinden. Klassen können im Wechsel in die Schulen kommen. Man kann mit den Jüngsten beginnen. Wir müssen uns um viele Kinder sorgen, die den Anschluss verlieren. In den Familien liegen die Nerven blank, weil insbesondere die Mütter enorme Lasten schultern.
Müssen Lehrer und Erzieher früher geimpft werden?
Lindner: Ja, die Impfreihenfolge muss angepasst werden. Menschen mit Behinderungen wurden vernachlässigt. Und die Lehrerinnen und Lehrer sowie die Erzieherinnen und Erzieher sollten früher ein Angebot erhalten. Diese Berufe sind ultrasystemrelevant. Daran hängen Bildungschancen und die Chance für die Eltern, ihrem Beruf nachzugehen.
Die Leistungen eines Schülers hängen noch viel stärker als sonst davon ab, wie er zu Hause gefördert werden kann. Muss jetzt nicht die klare Ansage sein: „Niemand darf in diesem Jahr wegen Corona sitzenbleiben“?
Lindner: Das Herz will sagen: Ja. Der Verstand muss ergänzen, dass „niemand“ ein großes Wort ist. Die Länder sind dringend aufgerufen, die individuelle Förderung so zu intensivieren, dass der Verlust eines ganzen Lebensjahrs möglichst verhindert wird.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek hat angekündigt, für eine Grundgesetzänderung für mehr Zusammenarbeit von Bund und Ländern bei den Schulen kämpfen zu wollen. Sie wollen sie unterstützen. Wie müsste die Grundgesetzänderung aus Ihrer Sicht konkret aussehen?
Lindner: Das ist eine Kehrtwende der CDU, die ich begrüße. Wir halten ja schon länger mehr Verantwortung für den Bund bei der Bildung für richtig. Er braucht die Möglichkeit, verlässlich Geld für die digitale Infrastruktur und die Gebäude geben zu können. Er sollte zukünftig auch in pädagogisches Personal und dessen Qualifizierung investieren können. Wir brauchen mehr Vergleichbarkeit bei den Bildungsinhalten. Wenn die CDU es wie Frau Karliczek sieht, dann könnte das noch vor der Bundestagswahl beschlossen werden.
Wie soll die Mitsprache des Bundes konkret aussehen?
Lindner: Denkbar ist ein Bildungsrat, in dem sich Bund und Länder gemeinsam mit Experten und Praktikern schneller auf gemeinsame Schritte verständigen.
Sie wollen die Kultusministerkonferenz der Länder entmachten?
Lindner: Nein. Mein Vorschlag orientiert sich am bestehenden Wissenschaftsrat, der im Wissenschaftsbereich etabliert ist. Wir brauchen ein Kooperationsgebot statt eines Kooperationsverbots. Das sollten wir auch ins Grundgesetz schreiben.
„Wir werden uns viel verzeihen müssen“, hat Gesundheitsminister Jens Spahn gesagt. Glauben Sie, er hat in Sachen Impfstoffe größere Fehler gemacht – und, wenn ja, sind die entschuldbar?
Lindner: Ich drücke mich zurückhaltend aus, wenn ich das Impfen als bisher größte Enttäuschung der Pandemie bezeichne. Der daraus folgende Schaden ist gigantisch.
Sie wollen Spahn also nicht einfach so verzeihen?
Lindner: In der Demokratie wird Verantwortung zugeordnet, aber das steht für mich heute nicht im Zentrum. Jetzt muss es um Problemlösung gehen. Sanofi produziert bald den Biontech-Impfstoff. Da wurde uns vor Wochen noch gesagt, das ginge nicht. Ebenfalls seit Wochen fordern wir einen Impfgipfel. Erst jetzt geht Herr Spahn endlich auf unseren Vorschlag ein. Die Bundesregierung muss mit der Pharmaindustrie, Ländern, Landkreisen und den niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten sprechen, was besser werden kann. Für Herrn Spahn liegt darin die Chance, den politischen Schaden zu begrenzen.
Die Wirtschaft leidet unter dem Lockdown, wie auch die Prognosen im Jahreswirtschaftsbericht zeigen. Wie lassen sich die Schäden besser abfedern?
Lindner: Die Hilfen der Bundesregierung sind für viele Unternehmen nur ein leeres Versprechen. Die Verzweiflung in der Wirtschaft wächst. Die Hilfen sind zu kompliziert, und teilweise werden dann noch nachträglich die Bedingungen geändert. Wir brauchen ein schlankes Verfahren: Das wäre eines, bei dem man sich das Ergebnis der Vorjahre anschaut – und auf dieser Grundlage unbürokratisch die Hilfe gewährt. Darüber hinaus muss die Regierung ermöglichen, dass die Verluste der Jahre 2020 und 2021 gegen die Steuerschuld der vorherigen Jahre verrechnet werden. So könnte sofort Geld über die Finanzämter ausgezahlt werden.
Der Staat hat zur Bewältigung der Corona-Krise gigantische Milliardensummen an Schulden aufgenommen. Woher soll das Geld kommen, um das alles zurückzuzahlen?
Lindner: Im Kern müssen wir zurück zur Strategie, die sich nach 2010 bewährt hat. Auf der einen Seite muss beim öffentlichen Sektor das Defizit reduziert werden. Auf der anderen Seite benötigen wir die Rückkehr zu einer Politik, die gute Rahmenbedingungen für Arbeitsplätze und Wachstum schafft. Das wird in den nächsten zwei, drei Jahren noch schwierig sein.
Das heißt, die Schuldenbremse kann auch 2022 noch nicht wieder eingehalten werden.
Lindner: Ich gehe davon aus, dass auch die nächste Bundesregierung von der Notfallklausel in der Schuldenbremse Gebrauch machen muss. Wäre ich Finanzminister, dann würde ich in dieser Ausnahmesituation beispielsweise die Steuern senken und dabei anfangs auf die Gegenfinanzierung verzichten. Wir müssen private Investitionen mobilisieren und als Investitionsstandort auch für internationales Kapital wieder attraktiv werden.
Mit wem wollen Sie das, selbst falls Sie der nächsten Regierung angehören sollten, jemals umsetzen?
Lindner: Beim Thema Steuerentlastung steht die FDP leider recht allein. Der Ehrgeiz der CDU glimmt nur noch. Aber in der richtigen Konstellation kann man ihn vielleicht wieder entfachen.
Geschickte Eigenwerbung – aber wo ist für Sie die rote Linie? Schließen Sie aus, in eine Bundesregierung einzutreten, die Steuern erhöht?
Lindner: Eine Erhöhung der steuerlichen Belastung beim Einkommen der Beschäftigten und denjenigen, die unternehmerische Risiken für Arbeitsplätze tragen, schließe ich aus. Grüne und Teile der CDU versuchen zudem, an der Schuldenbremse des Grundgesetzes zu manipulieren. Auch das schließe ich aus. Am Ende würde das Geld entgegen der Beteuerungen in den Konsum gehen. Außerdem wäre es ein fatales Signal nach Europa. Die Schuldenkrise vor zehn Jahren sollte Lehre genug sein.
Der neue CDU-Vorsitzende Armin Laschet hat für die Union das Wahlziel 35 plus x rausgegeben. Was trauen Sie der FDP zu?
Lindner: Wir wollen so stark werden, dass Schwarz-Grün nicht automatisch die nächste große Koalition wird. Die FDP muss dazu wieder zweistellig werden. Das ist machbar, denn wir liegen zu Beginn dieses Wahljahres besser als zu Beginn des Wahljahres 2017.