Rückkehr zur Vernunft in Klima- und Migrationspolitik
Die Grünen haben angekündigt, im Bundesrat zum Sturm auf das Klimaschutzprogramm der Bundesregierung zu blasen. Macht die FDP da mit?
Lindner: Die CDU-Vorsitzende hat einen nationalen Klimakonsens vorgeschlagen. Die Grünen haben das durch unhaltbare Forderungen torpediert. Sie wollen mit rigoroser Einseitigkeit eine Deindustrialisierung forcieren, den Kulturkampf gegen das Auto fortsetzen und den Menschen eine andere Lebensweise diktieren. Die Bundesregierung kombiniert aber zu oft Unwirksames mit dem Teuren. Das Klimaprogramm ist ein aktionistisches Stückwerk, um Greta Thunberg zu besänftigen. Wir wollen in Verhandlungen Verbesserungen erreichen.
Was will die FDP durchsetzen?
Lindner: Unser Ziel ist es, wirtschaftlichen Fortschritt und freiheitliche Lebensweise mit Klimaschutz zu verbinden. Sonst geht die Akzeptanz in Deutschland schnell verloren und niemand auf der Welt wird uns folgen. Dafür brauchen wir Startup-Denken statt Planwirtschaft. Erstens setzen wir auf Technologieoffenheit. Denkverbote sollten fallen. Zweitens sorgen wir uns um die Abstimmung in Europa. Überhaupt sollten wir über den Tellerrand schauen und unsere Möglichkeiten global nutzen. Der Tonne CO2 ist egal, wo sie eingespart wird. Dritten wollen wir einen echten Emissionshandel, um Erfindergeist zu mobilisieren. Die Vielzahl von Markteingriffen überzeugt uns nicht. Die Einnahmen des Staates aus dem CO2-Handel sollten den Menschen direkt und pro Kopf ausgezahlt werden, weil sie sonst im Haushalt versickern.
Besonders viel Kritik richtet sich jetzt gegen den niedrigen CO2-Preis und die Art, wie CDU, CSU und SPD den Emissionshandel einführen wollen. Die FDP hat vor einer Steuer gewarnt. Müssten Sie nicht zufrieden sein?
Lindner: Es wird von Emissionshandel gesprochen, aber das Modell hat den Charakter einer CO2-Steuer. Denn es gibt Festpreise oder einen Preiskorridor, dagegen keine Festschreibung der CO2-Menge. Marktwirtschaft wäre das Gegenteil: Unser Vorschlag ist ein festes Budget an CO2, aber der Tonnenpreis sollte sich am Markt bilden.
Halten Sie die Debatte über den Preis für die Tonne CO2 dann für überflüssig? Wird der Preis am Ende höher liegen?
Lindner: Wenn man Ressourcen wirklich effizient bewirtschaften will, muss sich der Preis am Markt bilden.
Das europäische Handelssystem mit Verschmutzungsrechten fing mit kostenlosen Zertifikaten an, musste später dann angepasst werden. Muss es in Deutschland mit der Brechstange gehen?
Lindner: Bestimmte Branchen unterliegen naturwissenschaftlichen Bedingungen, die ein Vorgehen mit der Brechstange verbieten. Da müssen die Optionen der Abscheidung, Speicherung und Nutzung von CO2 ausgeschöpft werden. Je eher wir mit einem sektorübergreifenden CO2-Handel beginnen, desto schneller werden wir zu Innovationen kommen, die die Preise unter Kontrolle halten.
Kann man sich also doch etwas Zeit lassen?
Lindner: Wir haben im Bundestag ein Modell vorgelegt, das einen Handel mit Verschmutzungsrechten nicht erst in sieben Jahren, sondern noch in dieser Wahlperiode einführt.
Muss in der Debatte über den Preis und die Kosten für die Verbraucher nicht auch berücksichtigt werden, dass die Koalition CO2-intensive Autos verteuert und die Elektrifizierung der Auto-Industrie beschleunigt?
Lindner: Die Fixierung auf batteriegetriebene Autos halte ich für einen Irrweg. Das kann eine Option sein, aber synthetische Kraftstoffe und Wasserstoff ebenso. Die CO2-Flottengrenzwerte auf EU-Ebene zerstören hier klimaneutrale Technologieoptionen und Wertschöpfungsketten unserer Industrie.
Also noch ein Förderprogramm?
Lindner: Synthetische Kraftstoffe und Wasserstoff brauchen vor allem Fairness, damit sie wirtschaftlich werden. Die Infrastruktur gibt es ja in beiden Fällen schon: die Tankstellen. Aber wenn man groß und global denken würde, dann müsste man die Sonnenenergie Afrikas mit unseren Verfahren kombinieren, um dort synthetische Kraftstoffe industriell zu produzieren. Das schafft dort Wohlstand und senkt bei uns CO2 sowie die Kosten.
Die FDP hatte vorgeschlagen, Stromsteuer und EEG-Umlage abzuschaffen. Nun gibt es den Einstieg dazu durch in eine Senkung in beiden Fällen. Ist das nicht in Ihrem Sinne?
Lindner: Ja. Die EEG-Umlage muss sinken, indem Erneuerbaren Energien keine neuen Subventionen gezahlt werden. Angesichts der höchsten Energiepreise in Europa sollte die Ökosteuer entfallen. Sie hatte keine Lenkungswirkung. Mit dem CO2-Preisen gibt es ein Instrument. Von einer Abschaffung der Stromsteuer lese ich in den Eckpunkten nichts.
Die FDP ist in drei Landesregierungen vertreten, die Grünen in neun Landesregierungen. Wie groß ist da der Hebel der FDP?
Lindner: Wir überschätzen uns nicht. Spätestens wenn sich herausstellt, dass der von der Koalition vorgestellte Emissionshandel rechtlich eher eine Steuer ist, werden wir im Bundestag gebraucht. Vor allem aber können wir öffentlich Druck machen. Denn ich bin sicher, dass viele Menschen trotz Klimaschutz an Verhältnismäßigkeit festhalten.
Die Grünen, so zeigen es die Umfragen, profitieren von dem Thema weit mehr als die FDP. Woran liegt das?
Lindner: Die Grünen profitieren von einem Zeitgeist in einem Teil der Gesellschaft. Viele andere sind indifferent. Die Leute empören sich zum Beispiel, dass sie hohe Steuern zahlen, und wenn sie sich dann einen SUV kaufen, dafür moralisch zurechtgewiesen werden. Das ist eine schweigende Mehrheit.
Wo ist denn die schweigende Mehrheit, wenn es zu Umfragen kommt? Da könnte sie doch ihre Stimme erheben. Aber sie tut es nur zum kleinen Teil für die FDP.
Lindner: Das stimmt. Deshalb muss die FDP klarer herausarbeiten, dass wir die Alternative zu Union, SPD und Grünen sind. Momentan haben vor allem Eckpositionen Konjunktur. Die eine beziehen die Grünen. Sie gewinnen Sympathie mit cremigen Auftritten und Biothemen. Im Paket kommen aber Steuererhöhungen, neue Schulden, Sympathie für Enteignungen, keine Konsequenz bei illegaler Migration und Koalitionen mit der Linkspartei. Die andere Eckposition hat die AfD bezogen: Abschottung, Distanz zur EU, verfassungsfeindliche Äußerungen und so weiter. Die FDP liegt in der Mitte der Gesellschaft. Da wollen die Leute Klimaschutz, aber nicht nach dem Prinzip „Wir schaffen das“ – ohne Plan und System.
Lässt sich diese Mitte aber so durch Emotionen mobilisieren wie das linke und rechte Wählerspektrum? Wäre das nicht ein Widerspruch zu Ihrem Anspruch, die Stimme der Vernunft zu sein?
Lindner: Ja, differenzierte Argumente sind nicht so laut. Aber für Freiheit und Vernunft kann man auch leidenschaftlich werben.
Aber wozu schweigt die schweigende Mehrheit eigentlich?
Lindner: Viele Menschen finden sich in den öffentlichen Debatten nicht mehr wieder. Nehmen Sie zum Beispiel die IAA: Wenn man den Medien geglaubt hat, gab es nur ein dominierendes Thema: Der Protest gegen das Auto. Ich war auf der IAA und habe gesehen, dass sich sehr viel mehr Menschen dort für das Auto interessiert haben statt dagegen zu demonstrieren. Wir müssen jenen Menschen eine Stimme geben, die weltoffen und tolerant und ökologisch bewusst sind, aber denen auch noch andere Themen als das Klima am Herzen liegen, zum Beispiel Wirtschaft, Bildung, Digitalisierung, Infrastruktur.
Haben Sie Schwierigkeiten, diese Leute zu erreichen?
Lindner: Über die Medien allein gelingt es nicht. Es braucht dafür viel persönlichen Kontakt. Das haben wir während der Zeit der außerparlamentarischen Opposition geübt. Man muss sich den FDP-Vorsitzenden wie Sisyphos als glücklichen Menschen vorstellen.
Halten Sie die Debatte, die wir gerade über das Klima erleben, also für Hysterie?
Lindner: Politik findet oft im Panikmodus statt. Vor allem ersetzt oft ein moralischer Appell das vernünftige Argument. Ganz drastisch ist das in Migrationsfragen und in der Klimapolitik zu besichtigen.
Sie wollen den Planeten also nicht retten?
Lindner: Solche Fragen liebe ich. Wer beim Klimaabsolutismus oder der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft in der Migration nicht mitmacht, dem wird schon Menschenfeindlichkeit unterstellt. Wir werden den Planeten nicht retten, indem wir einen Morgenthau-Plan für Deutschland umsetzen und die Deutschen zu veganen Radfahrern machen. Wenn wir den Planeten retten wollen, gibt es nur einen Weg: Wir müssen freiheitliche Wirtschaft und Lebensweise mit Nachhaltigkeit verbinden. Mit Askese, Verzicht, Verboten oder gar mit „Degrowth“, wie es auf den Freitagsdemonstrationen heißt, überzeugen wir niemanden, keinen Chinesen, keinen Inder, keinen Afrikaner, keinen Amerikaner, niemanden.
„Degrowth“ droht ja ohnehin: Sollte eine Nachbesserung des Klimaprogramms kommen, welche Rolle spielt dann die drohende Rezession?
Lindner: Wir gehen schlafwandlerisch auf den Wirtschaftsabsturz zu. Es muss auch die Frage gestellt werden, wie man Klimaschutz und Soziales bezahlt. Stattdessen haben machen geradezu Lust am Untergang der Automobilwirtschaft. Die Regierung Merkel belastet unser Land fiskalisch und bürokratisch über die Grenzen hinaus. Wir bräuchten jetzt ein Fitnessprogramm mit steuerlicher Entlastung, einem Moratorium für neue soziale Standards, dem Bürokratieabbau und der Mobilisierung von Investitionskapital, etwa durch den Verkauf der vom Staat gehaltenen Aktien von Post und Telekom. Man braucht keine neuen Schulden, um zu investieren. Es ist jedenfalls keine Konjunkturkrise, die mit Kurzarbeitergeld und ein paar keynesianischen Programmchen zu beheben ist, die uns bevorsteht, sondern eine strukturelle Krise.
Deren Ursache auch in der Digitalisierung liegt?
Lindner: Es ist ein „perfekter Sturm“: Als Exportnation erleben wir mit Handelsauseinandersetzungen und Brexit, dass alte Gewissheiten nicht mehr funktionieren. Schlüsselindustrien wie die Autobranche sind in einer tiefgreifenden Transformation, das Konsumentenverhalten ändert sich, private und öffentliche Investitionen waren in den letzten Jahren zu gering. Das Ganze wird dann noch flankiert von einer Politik, die uns eher fesselt als befreit.
Aus der FDP-Führung kommen immer wieder Äußerungen, sehr lange werde das nicht mehr gehen mit dem Höhenflug der Grünen, und die AfD habe womöglich ihren Zenit überschritten. Ist das Pfeifen im Walde? Kann die Klimadebatte der AfD nicht noch Auftrieb geben?
Lindner: Ich beteilige mich an solchen Prognosen nicht. Wer den Klimawandel leugnet, der kann tatsächlich nur AfD wählen. Wer Klimaschutz ohne Rücksicht auf andere Ziele will, der hat die Grünen. Wer die Erderwärmung mit kühlem Kopf bekämpfen will, dem machen wir ein Angebot.
Setzt sich in der Klimapolitik die Stimmung der Migrationspolitik fort?
Lindner: Auch wenn wir gegenwärtig keine großen Zuwanderungszahlen haben, ist bei den Menschen das Gefühl eines mindestens teilweisen staatlichen Kontrollverlustes noch voll präsent. Auch im Westen, auch bei bürgerlichen Wählern. Die wollen sehen, dass wir eine fordernde Integrationspolitik haben, die weltanschaulich neutral ist, die aber Erwartungen denen gegenüber ausspricht, die zu uns kommen und bleiben wollen. Die wollen sehen, dass es eine staatliche Seenotrettung im Mittelmeer gibt, aber dass die Geretteten nicht automatisch nach Europa und Deutschland kommen, sondern menschenwürdig vom Flüchtlingshilfswerk der UN in Afrika versorgt werden.
Der Bundesinnenminister sagt aber doch nicht, dass einem Viertel der aus Seenot Geretteten ein Bleiberecht zustehe, sondern nur, dass sie für die Dauer ihrer Asylverfahren aufgenommen würden.
Lindner: Wir haben in den vergangenen Jahren eine Hauptlast getragen in Europa. Wir haben ungelöste Integrationsaufgaben. Wir haben kein modernes Einwanderungsgesetzbuch. Herrn Seehofer gelingt es nicht, Menschen ohne Aufenthaltsstatus wirksam zurückzuführen. Das einzige Bundesland, das gute Ergebnisse hat, ist das von der FDP-mitregierte Nordrhein-Westfalen. Die Grünen blockieren den Status sicherer Herkunftsländer für die Maghreb-Staaten. Es gibt keine funktionierenden Rückführungsabkommen, keinen wirksamen Schutz der Außengrenzen. Und dann sollen wir 25 Prozent einer Zahl aufnehmen, die wir nicht kennen? Die jetzigen Zahlen sind niedrig, aber das lag doch bislang an der restriktiven Politik des italienischen Innenministers Salvini.
Aber wenn Schiffbrüchige gerettet werden sollen, muss es dann nicht auch einen vernünftigen Schlüssel für ihre Aufnahme in der EU geben?
Lindner: Gerettete Schiffbrüchige müssen zu sicheren Punkten nach Afrika gebracht werden, von wo aus dann Asylanträge gestellt werden können.
Alle afrikanischen Länder wehren sich dagegen. Sollen sie finanziell unter Druck gesetzt werden?
Lindner: Was heißt unter Druck setzen?
Wir stellen Ihnen finanzielle Hilfen in Aussicht.
Lindner: Das sehe ich nicht als Druck, sondern als Kooperation. In diese Richtung müsste es gehen. Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen muss in die Lage versetzt werden, zu handeln. Ja, in Libyen ist die Lage hochkompliziert, aber es gibt auch Staaten in Nordafrika mit politischer Stabilität.
Aber der Seehofer-Vorschlag soll doch ohnehin nur für eine Zwischenzeit gelten, bis eine europäische Flüchtlingsregelung greift.
Lindner: Herr Seehofer hat uns mehrfach über die Wirksamkeit der von ihm getroffenen Vereinbarungen mit anderen Staaten getäuscht. Ich vertraue seinen Verhandlungskünsten auf der europäischen Ebene nur sehr eingeschränkt. Die Voraussetzung für eine dauerhafte europäische Lösung ist nach meiner festen Überzeugung zunächst einmal das Bekenntnis dazu, dass ohne Kontrolle des Zugangs jedes System sozialer Sicherheit und Ordnung zusammenbricht. Frau Merkel hat im Bundestag einmal gesagt, im 21. Jahrhundert ist der Schutz von Grenzen eine Illusion. Das habe ich als Kapitulation empfunden. Danach kann man dann entscheiden, in welchen Fällen nehmen wir Zuwanderer aus Solidarität, in Fällen aus wohlverstandenem Eigeninteresse. Und wo liegen die objektive technische Kapazitätsgrenzen für humanitären Schutz, wo gibt es Grenzen der Akzeptanz.
Gelten solche Grenzen der Akzeptanz im subjektiven Empfinden vieler Menschen nicht auch gegenüber den Migranten, die Sie mit einem Einwanderungsgesetz ins Land holen wollen?
Lindner: Ja, aber da geht es wohl um kulturelle Verlustängste. Das ist unsere Sache nicht, wir sind für eine vielfältige Gesellschaft. Wir wollen einen weltanschaulich neutralen Staat und Toleranz für alle. Wer Verantwortung für seinen Lebensunterhalt übernimmt, Gesetze und Regeln achtet und sich integriert, der soll nach seiner Facon selig werden. Liberale Einwanderungspolitik verbindet Weltoffenheit und Toleranz mit Ordnung und Konsequenz.
In der Zeit der Jamaika-Verhandlungen und kurz danach haben Sie Frau Merkel als Auslaufmodell bewertet, dessen Zeit zu Ende sei. Nun regiert sie immer noch, gewinnt sogar neuen internationalen Glanz wie jetzt auf dem UN-Klimagipfel. War das eine juvenile Fehleinschätzung von Ihnen?
Lindner: Frau Merkel ist nicht mehr Parteivorsitzende. Und die europäische Führungsrolle ist längst nach Paris übergegangen. Wir schauen nach vorne auf das, was kommt. Und dann wird irgendwann entschieden, wann ein neues Kapitel aufgeschlagen wird. Daran wollen wir mitschreiben.