Klimaschutz mit Einfallsreichtum, Technologieoffenheit und wirtschaftlichem Fortschritt
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Es sieht manchmal so aus, als ob es vor allem ein Anliegen Deutschlands ist, die Staatsschulden der EU-Mitgliedstaaten zu reduzieren. Ist das auch Ihr Eindruck?
Lindner: Uns ist es wichtig, dass der Euro stabil bleibt und die Europäische Union wettbewerbsfähig ist. Für diese Ziele brauchen wir solide Staatsfinanzen. Es ist kein Fetisch, auf geringere Defizite und niedrigere Schuldenstände hinzuarbeiten, sondern wir sind überzeugt, dass wir auf Dauer nur so die Vorteile unserer gemeinsamen Währung erhalten können und weltweit weiter wettbewerbsfähig sind.
Ist diese Überzeugung in Deutschland stärker als in zum Beispiel Frankreich oder Spanien?
Lindner: Der deutschen Bevölkerung ist die Preisstabilität traditionell sehr wichtig. Uns ist wichtig, dass jeder für seine eigenen Entscheidungen auch Verantwortung übernimmt. Das bedeutet, dass es keine Haftung für die Staatsfinanzen anderer Länder geben sollte. Wir müssen verhindern, dass Länder sich überschulden. Es darf sich nicht wiederholen, was wir vor einigen Jahren mit der Staatsschuldenkrise in Europa erlebt haben.
Sie sprechen von einer Tradition – sind in Deutschland bestimmte ökonomische Auffassungen dominanter als in anderen Ländern?
Lindner: Tatsächlich gab es in den letzten Jahren in der wirtschaftswissenschaftlichen Theorie die These, kommend aus den USA, dass Verschuldung kein Problem sei und dass expansive Finanzpolitik keine Auswirkung auf die Preisentwicklung hätte. Man könnte also Wachstum, so wurde vermutet, kaufen, auch mit öffentlicher Verschuldung. Diese Idee ist durch die Inflationsentwicklung der letzten Jahre zurückgewiesen in das Reich der Mythen. Die größte Gefahr für unsere wirtschaftliche Entwicklung ist die Inflation, weil sie die Menschen enteignet.
Fanden Sie diese neue monetäre Theorie auch interessant oder gar glaubwürdig?
Lindner: Nein. Denn als ich noch nicht Finanzminister war, haben Vertreter dieser Theorie öffentlich davor gewarnt, mir die Verantwortung für die deutschen Staatsfinanzen zu übertragen, weil ich unverbesserlich daran festhalte, dass der Wohlstand erst erwirtschaftet werden muss, bevor er verteilt werden kann.
Sehen Sie es als Ihre Rolle in Europa, den ‚Bad Cop‘ zu spielen, und andere Länder auf ihre Verantwortung anzusprechen?
Lindner: Ich bin bereit auch unangenehme Botschaften auszusprechen, wenn das notwendig ist. Wenn Europa insgesamt nicht mehr als stabil empfunden wird, dann spüren dies auch die Bürgerinnen und Bürger zum Beispiel an einem höheren Zinsniveau, dass uns Wohlstand kosten wird.
Es ist ein offener Diskussionsprozess. Wir sind sehr konstruktiv.
Sie wollen festhalten an einer Verringerung von 1 Prozentpunkt der Schuldenrate pro Jahr.
Lindner: Das ist unser Vorschlag. Man muss es aber umdrehen: 60% ist die von unseren europäischen Verträgen vorgesehene Höchstgrenze für die Verschuldung. Wir haben Länder, deren Verschuldung deutlich über 100% liegt. Das würde bedeuten, diese Länder haben mehr als 40 Jahre Zeit, um zu dem zurückzukehren, was gemäß unseren gemeinsamen Verträgen die Normalität sein soll.
Haben Sie zu wenig Vertrauen in die Kommission, dass sie mit den Mitgliedstaaten wirksame Pläne ausarbeiten könnte, womit die Staaten wieder auf dem richtigen Weg gelangen?
Lindner: Ich bin für klare und eindeutige Regeln, die nicht politisch unterschiedlich interpretiert werden können. Klare Regeln sichern, dass alle wissen, woran sie sind und dass alle Staaten in gleicher Weise behandelt werden.
Im Moment scheint es ja auch politisch zu sein, wie die Sanktionen eingesetzt werden.
Lindner: Ich stimme Ihnen zu, deswegen brauchen wir auch klarere Regeln. Wenn ein Land dagegen verstößt, muss ein Defizitverfahren eingeleitet werden. Sonst sind die Regeln nicht glaubwürdig. Auch im Fall von Deutschland darf unsere Größe nicht dazu führen, dass es eine falsche Rücksicht gibt.
In den letzten Monaten zeigten Sie sich gelassen über die Möglichkeit, dass es dieses Jahr nicht zu einen Kompromiss kommen würde. Dann müsste halt alles beim alten bleiben. Würden Sie dann darauf bestehen, dass die Sanktionen durchgesetzt werden in 2024?
Lindner: Selbstverständlich. Wir sind Rechtsstaaten. Geltendes Recht müssen wir so lange anwenden, bis wir ein neues Regelwerk haben.
Das könnte aber sehr schmerzhaft werden für stark verschuldeten Länder und damit haben Sie einen starken Hebel.
Lindner: Es ist sowohl im deutschen als auch im europäischen Interesse, dass wir die Defizite und die Schuldenquoten reduzieren. Wenn wir bei den hohen Defiziten und Schulden bleiben, wird das Ergebnis sein, dass Ratings sich verschlechtern und wir mehr für unsere Schulden bezahlen müssen. Das stürzt dann erst recht die hoch verschuldeten Länder in schwere Probleme.
Würden Sie beispielsweise Italien dazu zwingen wollen, nächstes Jahr 4 Prozentpunkte ihrer Staatsschulden zu begleichen?
Lindner: In Ihrer Frage steckt der Gedanke des Rechtsbruchs. Wie würden wir es finden, wenn in einer Stadt Tempo 50 Km/h vorgeschrieben ist, und es fährt fortwährend jemand mit 90 vorbei? Würden wir sagen, na gut, es wird immer zu schnell gefahren, kein Problem? Die Gefahren, die damit verbunden sind, dass jemand schneller fährt als erlaubt verschwinden ja nicht. Genauso ist es mit den europäischen Finanzen. Vorgeschrieben sind 60 Prozent, in der Realität liegen die Quoten vielerorts sehr viel höher.
Würden Sie sich dann als der „eiserne Christian Lindner“ entpuppen? Eine Formulierung des Spiegels.
Lindner: Ich kann mit solchen Zuschreibungen wenig anfangen, denn es geht Deutschland nicht darum, in Europa eine Spaltung zu erreichen. Wir wollen zusammenführen. Wir sitzen alle in einem Boot.
Es gibt viele Vorurteile über deutsche Finanzminister. Erschwert dass Ihre Rolle in Europa?
Lindner: Nein. Meine Kolleginnen und Kollegen würden sicherlich überwiegend sagen, dass ich ein freundlicher, verständnisvoller Mensch mit Humor bin, jedoch auch gewissen Grundüberzeugungen.
Die FDP will Klimaschutz nicht mit Verbot, Verzicht oder Befehl erreichen, sondern mit Einfallsreichtum, mit Technologieoffenheit und wirtschaftlichem Fortschritt. Ich bin der größte Freund der Wärmepumpe und besitze selber eine, mit Photovoltaikanlage. Die Parteizentrale der Grünen hat keine.
Okay, sie haben eine Wärmepumpe zu Hause, aber doch nicht in der FDP Parteizentrale?
Lindner: Die FDP Parteizentrale ist ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert.
Denken Sie dass Verzicht einfach nicht nötig ist für die Einhaltung der Pariser Klimaziele? Weniger Autofahren zum Beispiel?
Lindner: Ich halte Verzicht nicht für nötig, ich plädiere für Veränderung. Warum man weniger mit einem klimaneutralen Auto fahren müsste, würde mir nicht einleuchten.
Ich frage, weil die FDP ein starkes Signal hinterlassen hat in Brüssel durch das Streichen des Verbrenner-Aus.
Lindner: Sie stellen es so dar, als sei daran Kritik geäußert worden. Die Wahrheit ist aber, dass Deutschland nur deshalb die Politik von Frans Timmermans korrigieren konnte, weil es eine große Zahl von Ländern gab, die vorher geschwiegen haben, es im Nachhinein aber genauso sehen wie wir.
Aus Brüssel klingt es so als ob Ihre Partei das Verbrenner-Aus-Aus forciert hat.
Lindner: Absolut. Aber das kann niemanden überraschen. Schon in unserem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2021 steht, dass Deutschland keinem Verbot des Verbrennungsmotors zustimmen wird. Der Verbrennungsmotor muss nur klimafreundlich werden, was technisch möglich ist. Und im Nachhinein hat sich herausgestellt, dass die FDP nicht allein war. Die Mehrheit der deutschen Bevölkerung steht dahinter. Die Mehrheit der europäischen Fahrzeughersteller und Zulieferer steht dahinter. Also insofern ist es vielleicht ein Problem, dass der Diskurs von Eliten, NGOs und Medienvertretern in Brüssel oft nicht repräsentativ ist für das, was PraktikerInnen und ExpertInnen vor Ort denken und wollen.
Welche Eliten meinen Sie genau?
Lindner: Diejenigen, die Politik formulieren und sich dabei zu wenig mit Menschen aus der Technik und der Praxis rückkoppeln.
Gerade verhandeln Sie mit Kanzler Olaf Scholz und Ihren Kolleginnen und Kollegen Minister über den Haushalt von 2024. Es scheint in letzter Zeit so, als ob man sich in der Ampelregierung gegenseitig wenig gönnt.
Lindner: Ich gönne allen ihren Erfolg und will alle Projekte ermöglichen, die wirtschaftlich darstellbar sind.
Gibt es ein Vertrauensdefizit? Würden Sie diese Redewende zustimmen, die lautet ‚Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser?
Lindner: Nein, ich bin kein Freund von Lenin. Ich habe ganz andere Grundüberzeugungen, und zwar, dass Freiheit Regeln braucht, an denen man sich orientieren kann. Ich bin ein Ordnungspolitiker. Ich wünsche mir einen klaren Rahmen, innerhalb dessen man dann möglichst viel Freiheit hat.