Keine Zwei-Klassen-Gesellschaft
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Corona hat die Welt im Griff. In Deutschland sterben täglich über 500 Menschen, die infiziert waren. Das Land steckt in einer ökonomischen Krise ohne gleichen. Mit welchen Gefühlen gehen Sie in die letzten Tage vor dem Weihnachtsfest – nur Sorgen?
Lindner: 2020 war sicherlich für uns alle ein besonders forderndes Jahr. Ich blicke aber mit Zuversicht auf das Ende dieses Jahres. Denn: 2021 kann im Grunde nur besser werden.
Die Infektionszahlen gehen nicht runter. Die Sieben-Tages-Inzidenz ist so hoch wie nie in Deutschland. „Weiterso“ kann kaum die Devise sein, oder?
Lindner: Die aktuelle Corona-Strategie verursacht hohen wirtschaftlichen und sozialen Schaden, ohne dass sich positive Effekte für die Eindämmung der Infektionen einstellen. Deshalb haben wir eine Dauer-Debatte über Verschärfungen und Verlängerungen. Es braucht endlich eine Gesamtstrategie, um Corona-Schutz und öffentliches Lebens besser auszubalancieren.
Der Druck, einen harten Shutdown zu verhängen, wächst. Ist das auch für Sie eine Option?
Lindner: Einen pauschalen, flächendeckenden harten Lockdown, wie ihn Angela Merkel (CDU), Markus Söder (CSU), Saarlands Ministerpräsident Tobias Hans (CDU) und andere befürworten, lehne ich ab. Auch pauschale Ausgangssperren sind nicht durch hohe Infektionszahlen zu rechtfertigen. Ein Hausarrest zwischen 21 Uhr abends und fünf Uhr morgens, wie er in Bayern gilt, ist unverhältnismäßig. Wer mit dem Hund um den Block geht oder allein durch den Park joggt, ist für niemanden ein Infektionsrisiko.
Und was ist mit den Hotspots, in denen die Zahlen durch die Decke gehen?
Lindner: Dass in Sachsen und in Teilen Bayerns gerade die Maßnahmen verstärkt werden, halte ich für nachvollziehbar. Dass in Regionen mit höchsten Infektionszahlen andere Maßnahmen eingeleitet werden müssen als an der Nordseeküste, ist logisch. In den Hotspots braucht es härteres Durchgreifen.
Man ahnt schon das Aber ...
Lindner: Das gilt aber nicht für das ganze Land pauschal und flächendeckend. Da wollen wir den Schutz von Risikogruppen als nationale Kraftanstrengung begreifen und zusätzlich mit Abstandhalten, Masken, Corona-App, Lüften und strenger Hygiene die Sicherheit erhöhen. Im Handel, in der Kultur und der Gastronomie. Wir können für die so genannten vulnerablen Gruppen spezielle Einkaufszeiten schaffen und ihnen Taxigutscheine geben, damit sie sicher von A nach B kommen.
Die Gefahr, dass alte und geschwächte Menschen dadurch ausgegrenzt werden, sehen Sie nicht?
Lindner: Eben nicht. Wenn es diesen Menschen mit verstärktem Schutz möglich wird, am öffentlichen Leben teilzunehmen, ist das das Gegenteil von Isolation. In Städten wie Tübingen kann man ja sehen, dass es funktioniert: Menschen, die hochbetagte oder gesundheitlich gefährdete Verwandte besuchen wollen, können zudem Schnelltests machen. Wenn dann auch FFP2-Masken bereitgestellt werden, kann das viel Leid – und auch Todesfälle – verhindern.
Wenn erst einmal große Teile der Bevölkerung geimpft sind, könnte sich die Lage medizinisch und wirtschaftlich deutlich entspannen. Zwangsimpfungen werden Sie als Liberaler ja ablehnen, oder?
Lindner: Genau.
Und wie sehen Sie Sonderrechte für Geimpfte?
Lindner: Wir wollen keine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Sonderrechte für Geimpfte und diejenigen, die die Krankheit schon durchlebt haben, lehne ich ab. Alle, die sich impfen lassen wollen, sollten das schnell tun können. Deshalb müssen wir nicht nur die Impfzentren, sondern so bald wie möglich auch die Kapazitäten der niedergelassenen Ärzte nutzen. Die zusätzlichen Freiheiten, die das Impfen ermöglicht, sollten sich nicht erst in der zweiten Jahreshälfte von 2021 erfüllen.
Die Adventswochen sind – jedenfalls gefühlt – auch eine Hoch-Zeit für Mitmenschlichkeit. In Berlin sind Not und Elend auch auf den Straßen dauerpräsent. Wie reagieren Sie, wenn obdachlose Bettler Sie auf der Straße ansprechen?
Lindner: Vermutlich so wie viele Menschen.
Manchmal Geld geben, manchmal auch nicht? Und jedes Mal grübeln, ob Sie es richtiggemacht haben?
Lindner: Eigentlich gebe ich immer. Aber eigentlich dürfte es Obdachlosigkeit in einem Land wie Deutschland nicht geben. Ich finde es bedrückend, dass es auch bei uns Menschen gibt, die auf der Straße leben. Es ist Aufgabe für die gesamte Gesellschaft, die Betroffenen darin zu unterstützen, dass sie Obdachlosigkeit überwinden können.
Tut der Staat genug für Menschen, die abgerutscht sind?
Lindner: Gegen absolute Armut hat unser Staat ein Sicherheitsnetz, das man in Anspruch nehmen kann. Generell möchten wir, dass Menschen möglichst schnell aus dem System staatlicher Hilfe herauswachsen können. Der Staat kann sicher mehr tun für Menschen, die momentan eine Grundsicherung brauchen, die aber da rauswollen – die aufsteigen und finanziell wieder auf eigenen Beinen stehen wollen.
Wo sind denn die Hürden?
Lindner: Für Alleinerziehende, Langzeitarbeitslose und Menschen mit geringer Qualifikation ist das Vorankommen schwer. Es fehlt teilweise noch an Betreuungsmöglichkeiten für Kinder, es mangelt an Bildungsangeboten für Erwachsene. Schon vor zehn Jahren habe ich angeprangert, dass zum Beispiel eine alleinerziehende Mutter, die Hartz IV erhält, von Mehrarbeit in einem Minijob kaum etwas behalten kann. Eigeninitiative und der Wunsch sich herauszuarbeiten werden so entwertet. Das ist ein Skandal in Sachen Leistungsgerechtigkeit.
Die Pandemie verändert gewohnte Sicherheiten. Die Corona-Krise hat den brutalen Effekt, dass auch viele bisherige Leistungsträger Unterstützung brauchen.
Lindner: Wenn durch staatliche Schließungen ein Gastronom oder die Betreiberin eines Kosmetik-Studios schließen muss, ist es Aufgabe der Solidargemeinschaft, einzutreten. Der Staat ist ja genau dafür da, uns bei den Schicksalsschlägen beizustehen, die über die Möglichkeit der Eigenverantwortung herausgehen.
Viele besonders Aktive und Mutige erfahren jetzt, dass ihre Risikofreude sie an den Rand der Existenz bringen kann. Das ist ja eine Gruppe, der sich die FDP traditionell verbunden fühlt. Fürchten Sie, dass das die Bereitschaft, ein Unternehmen zu gründen, drastisch drückt?
Lindner: So viel Bereitschaft gab es ja in Deutschland bisher nicht. Wir sprechen übrigens nicht nur Selbstständige gezielt an, sondern Menschen, die im weitesten Sinne eine unternehmerische Ader haben, Eigeninitiative zeigen. Da geht es um ein Lebensgefühl ...
Und wie sieht das aus?
Lindner: Wenn eine Lehrerin auf eigene Faust digitalen Distanzunterricht organisiert, auch wenn die Ausstattung nicht optimal ist, dann ist das eine Grundhaltung, die mir sympathisch ist. Auch wie flexibel viele Leute Homeoffice organisieren, macht Mut: Es braucht nicht für alles eine haarkleine bürokratische Regel. Kurz: Die Corona-Erfahrung ist nicht nur schlecht, sondern ambivalent. Es gibt Solidarität im Alltag und Flexibilität beim Lösen von Problemen. Aber dass manche sich ohnmächtig fühlen, weil sie ohne eigene Schuld in eine existenzielle Notlage gekommen sind, gehört eben auch zur Wahrheit.
Der Staat gewährt Hilfen in einer Größenordnung, die man sich bisher nicht hätte vorstellen können. Gut 71 Milliarden Euro wurden gewerblichen und freiberuflichen Unternehmen bewilligt. Sehen Sie eine Alternative zu diesem Kurs?
Lindner: Manches stimmt, aber nicht alles. Eine Art Unternehmerlohn für Solo-Selbständige, Freelancer und Kultur vermisse ich. An anderer Stelle gab es leider auch unnötige Mitnahmeeffekte. Das Kurzarbeitergeld ist zwar eine wichtige Brücke. Aber man hätte es nicht gleich verlängern sollen bis Ende nächsten Jahres. Und dass die so genannten Novemberhilfen erst im Januar ausgezahlt werden, ist natürlich ein schlechter Witz.
Also: Auch ein Christian Lindner in Regierungsverantwortung hätte – wie Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) – die große Waffe des Staates, die „Bazooka“, ausgepackt, er hätte nur anders gezielt?
Lindner: Ja. Beispielsweise durch unbürokratische Maßnahmen wie den Verlustrücktrag, mit dem die Verluste dieses Jahres mit den Gewinnen der Vorjahre bei der Steuer verrechnet werden. Das bringt Zielgenauigkeit. Und ein Speiselokal, das öffnen kann, soll dann auch wieder öffnen. Hier könnte man die Solidargemeinschaft finanziell schonen.
Wie soll das gehen?
Lindner: In der Gastronomie, in Kultur-, Freizeit- und Sporteinrichtungen gibt es verantwortbare Konzepte zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene – Abstand, Maske, Plexiglasscheiben zwischen den Tischen, Luftfilter, Heizpilze unter freiem Himmel. Spätestens Anfang nächsten Jahres müssen wir endlich darüber reden, wie dort der Betrieb wieder geöffnet werden kann – trotz und parallel zur Pandemie. Denn auf den Impfstoff zu warten, das können wir uns nicht erlauben. Weder wirtschaftlich noch sozial.
Deutschland verschuldet sich wie noch nie. Fürs nächste Jahr ist eine Neuverschuldung von etwa 180 Milliarden Euro vorgesehen. Olaf Scholz sagt: Wir können uns das leisten.
Lindner: Die Frage ist, ob wir uns so hohe Schulden leisten müssen. Alles muss schließlich zurückgezahlt werden. Deshalb werden aus den Schulden von heute schnell die Steuererhöhungen von morgen. Da werden wir viel finanzpolitische Disziplin brauchen, damit am Ende nicht die arbeitende Mitte im Land völlig überfordert ist. Der Familienbetrieb muss Arbeitsplätze sicher, der Facharbeiter will im Leben vorankommen. Dafür braucht es finanzielle Freiräume.
Die Kanzlerin betont: „Noch höher wären die Kosten – finanziell wie sozial –, wenn viele Unternehmen zusammenbrächen und Millionen von Arbeitsplätzen verloren gingen.“
Lindner: Ich bin kein Gegner von Notkrediten, wenn der Staat handlungsfähig sein muss. Aber dann müssen zuvor alle Möglichkeiten ausgeschöpft sein. Es werden Notkredite aufgenommen, aber zugleich wird die Asyl-Rücklage mit rund 48 Milliarden Euro als Wahlkampfkasse beibehalten. Es ist auch ein falsches Signal nach Europa. Bisher war Deutschlands Ausnahme-Bonität der Stabilitätsanker für die Gemeinschaftswährung. Wenn wir unsolide werden, führen wir auch andere in Versuchung.
Sie haben zuletzt geunkt, in den zwanziger Jahren müsse sich Deutschland daran gewöhnen, Politik „weitgehend ohne Geld“ zu machen. Sie empfehlen also eine Art Null-Diät für den Sozialstaat?
Lindner: Nein. Wir haben allerdings einen hochentwickelten Sozialstaat. Schon vor der Krise ging ein Drittel der Wirtschaftsleistung in Soziales. Jetzt rate ich dazu, dass wir erst einmal keine neuen Ausgaben beschließen. Wenn die aktuellen Staatsaufgaben, Ausgaben und Verpflichtungen solide und ohne Schulden finanzieren werden könnten, kann man meinetwegen wieder über Ausdehnung des Staates streiten. Jetzt muss aber die Priorität auf Arbeitsplätzen, neuen Ideen und privaten Investitionen liegen, damit wir aus den Schulden herauswachsen können.
Aber ist es in der aktuellen Lage nicht eine Binsenweisheit, dass die viel zitierten „starken Schultern“ mehr tragen müssen? Wer soll es denn sonst tun? Das sagen ja auch mittlerweile Leute wie Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU).
Lindner: In der Tat eine Binsenweisheit. Denn die starken Schultern tragen jetzt ja schon mehr. Zu den starken Schultern gehört übrigens der qualifizierte Facharbeiter, die Ingenieurin und der Handwerker. Die zahlen nämlich Spitzensteuersatz und tragen mit Steuern und Beiträgen mit die höchsten Lasten weltweit. Wir brauchen daher eine Entlastung in der Breite – für Krankenpflegerinnen und -pfleger, Ingenieure, die Ärztin – eben die arbeitende Mitte. Es braucht eine Offensive für mehr Privatinvestitionen und neue Technologien. Erfindergeist motivieren wir nicht durch immer neue steuerliche Lasten.
Die Grünen wollen an die Macht. Das sagen Robert Habeck und Annalena Baerbock so laut wie nie zuvor. Und die FDP? Vielleicht? Vielleicht auch nicht?
Lindner: Wir wollten schon 2017 ...
Ach.
Lindner: Klar. Nur haben wir inhaltliche Ziele und Überzeugungen. Abschaffung des Soli, Digitalministerium, Bildungsoffensive, eine rationale Energiepolitik, weniger Bürokratismus – um nur einige zu nennen. Wenn es ein faires Miteinander gibt und jeder Projekte umsetzen kann, sind wir gerne Teil einer Koalition. Jetzt in den zwanziger Jahren geht es teilweise um die Neugründung von staatlichen Systemen, der Wirtschaftsordnung und der Quellen unseres Wohlstands. Das wollen wir nicht Schwarz-Grün oder Grün-Rot-Rot überlassen. Es wäre ratsam, wenn da eine Partei der Freiheit mitspricht.
Sie haben neulich zu Protokoll gegeben, der herausforderndste Job im nächsten Jahr wäre der des Finanzministers. Soll da dann die FDP ran?
Lindner: Es ist kein Geheimnis, dass ich 2017 auf die Chance verzichtet habe, Finanzminister zu werden. Das hätte ich gerne gemacht, wenn ich nicht zum Beispiel den Solidaritätszuschlag hätte verlängern müssen statt abzuschaffen. Aber auf das Privileg des Amtes habe ich zu Gunsten unserer Glaubwürdigkeit gerne verzichtet. 2021 ist der Job noch reizvoller, weil es darum geht, das Land aus dem Schuldensumpf zu befreien und wieder auf Wachstumskurs zu bringen.
Was ist Ihr Wunsch zu Weihnachten, Herr Lindner?
Lindner: Gesundheit für meine Familie. Da sind vor allem zwei über 90-jährige Omas dabei, an die ich in Zeiten Corona besonders denke. Ich werde aus Rücksichtnahme in Berlin bleiben und im ganz kleinen Kreis feiern – die restliche Familie sehe ich dann am Heiligen Abend via Zoom.