Es ist für mich eine Frage der Ehre, dass wir reinen Tisch machen.

Christian Lindner Haushalt
Handelsblatt

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Herr Lindner, wird der Haushalt 2024 noch in diesem Jahr beschlossen?  

Lindner: Die Entscheidung liegt beim Parlament und ist der Wunsch der Koalitionsfraktionen. Die Bundesregierung wird versuchen, das zu ermöglichen. Dazu ist aber viel Arbeit zu leisten. Wir reden von einem erheblichen zusätzlichen Konsolidierungsbedarf. Dabei ist es ratsam, dass wir den Haushalt 2024 und bereits den Haushalt 2025 zusammen betrachten. Denn strukturelle Änderungen sind aus meiner Sicht unausweichlich.

Wie groß ist denn der Konsolidierungsbedarf nach dem Verfassungsgerichtsurteil? 

Lindner: Wir reden über zweistellige Milliardenbeträge, um beispielsweise die ambitionierten Pläne zur Erneuerung der Infrastruktur und für Investitionen in Technologie umzusetzen.

Pro Jahr? 

Lindner: Ja.

Welche Sondervermögen neben dem Klimafonds sind noch verfassungswidrig?  

Lindner: Das Bundesverfassungsgericht hat sich erstmals umfassend zur Schuldenbremse und zu Sondervermögen geäußert. Wir haben eine neue Rechtsklarheit, die die Staatspraxis ändert. Der Kern des Urteils ist, dass Notlagenkredite in dem Haushaltsjahr genutzt werden müssen, in dem sie beschlossen wurden. Ich habe daher alle Sondervermögen prüfen lassen. Der Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds, aus dem die Strom- und Gaspreisbremse finanziert werden, muss in diesem Jahr auf eine andere Rechtsgrundlage gestellt und 2024 beendet werden. Auch der Aufbauhilfefonds für die Opfer des Hochwassers 2021, der von der Vorgängerregierung gebildet wurde, ist verfassungsrechtlich nicht sicher.

Sie werden 2023 erneut eine Notlage ausrufen? 

Lindner: Zur Erinnerung, wir hatten Ende 2022 ja für die Zeit bis 2024 den Wirtschafts- und Stabilisierungsfonds mit dem Notlagenbeschluss gebildet. Mit dem Wissen von heute würden wir nicht mehr so entscheiden. Die Notlage muss für jedes Jahr einzeln begründet werden. Für das Jahr 2023 können wir die Verfassungsmäßigkeit der ja bereits verausgabten Mittel für die Strom- und Gaspreisbremse noch herstellen. An die Situation Anfang dieses Jahres erinnern wir uns alle. Dazu werde ich kommende Woche einen Nachtragshaushalt für das laufende Jahr vorlegen. Bei der rechtssicheren Fortsetzung des Fonds für die Hochwasseropfer hoffe ich auch auf Unterstützung der CDU/CSU. Um es klar zu sagen, dabei geht es nicht um zusätzliche Ausgaben, sondern um die rechtliche Absicherung bereits erfolgter Ausgaben.

Werden Sie auch für 2024 die Notlage ausrufen? 

Lindner: Gegenwärtig beschäftige ich mich nur mit 2023. Ich reklamiere nicht die Urheberschaft für die jetzt verworfene Vorgehensweise. Das war ein Koalitionskompromiss. Die Konzeption lag vor, als ich ins Haus kam. Aber ich trage dafür politische Verantwortung als Minister. Deshalb ist es für mich eine Frage der Ehre, dass wir reinen Tisch machen. Erst danach kann man nach vorne schauen. 

Die Urheberschaft für die verfassungswidrigen Haushaltstricks liegt bei Olaf Scholz. Er hat sie 2020 noch als Finanzminister erfunden. Sie haben die Praxis damals kritisiert und eine Verfassungsklage erwogen. Wie oft denken Sie in diesen Tagen, hätte ich damals bloß geklagt? 

Lindner: Die FDP-Bundestagsfraktion war nicht klagebefugt. Aber ja, frühere Rechtsklarheit hätte uns diese Situation erspart. Wir haben während der Koalitionsverhandlungen beraten und geglaubt, einen verfassungsrechtlich verantwortbaren Weg gefunden zu haben. Es gibt ihn nicht. Jetzt betrachte ich es als meine Aufgabe, alle Zweifel zu beseitigen und vollständig aufzuräumen.

Hätten Sie als Finanzminister nicht darauf bestanden, 2023 die Schuldenbremse unbedingt wieder einzuhalten, hätten Sie das ganze Problem nicht. 

Lindner: Ihr Hinweis bezieht sich nur auf den Wirtschaftsstabilisierungsfonds. Wir haben ihn als Abwehrschirm bezeichnet, hinter dem wir die Strukturen der deutschen Wirtschaft und den Bundeshaushalt vor den Folgen des Ukraine-Kriegs schützen. Hinter diesem Abwehrschirm ist der reguläre Etat nach den Regeln der Schuldenbremse aufgestellt worden. Mir ging es darum, die zusätzlichen Kreditermächtigungen strikt auf die Krisenfolgen zu konzentrieren. Hätten wir damals schon die Rechtsklarheit gehabt, die wir heute haben, dann hätten wir bereits Anfang des Jahres 2023 für die Strom- und Gaspreisbremse den Notlagenbeschluss herbeigeführt.

Würden Sie sich wünschen, der Kanzler würde mehr für seinen Fehler geradestehen? Er ist seit dem Urteilsspruch auffällig untergetaucht. 

Lindner: Olaf Scholz hat sich in der Regierungsbefragung im Deutschen Bundestag öffentlich dazu geäußert. Ich halte von rückwirkenden Schuldzuweisungen generell nichts, als Finanzminister ducke ich mich aber erst recht nicht weg. 

Wenn Sie derzeit so oft mit Olaf Scholz und Robert Habeck zusammensitzen: Gehen Sie sich schon auf die Nerven? Droht so etwas wie ein Ermüdungsbruch?

Lindner: Nein. 

Sie freuen sich schon auf das nächste Treffen?

Lindner: Also ich habe keine feuchte Wohnung und private Freunde. Ich muss nicht ständig im Kanzleramt meine Abende und Nächste verbringen. Aber hier geht es nicht um Freude, sondern um Pflicht. 

Aber müsste nicht jemand aus der Ampel sich mal für dieses ganze Chaos bei den Bürgern entschuldigen? 

Lindner: Ich habe bereits gesagt, dass wir diesen Schritt in Kenntnis der Rechtsprechung nicht noch einmal gehen würden. Das Motiv war allerdings lauter. Es ging 2021 beispielsweise um Investitionen in Technologie und die Entlastung der Bürgerinnen und Bürger von der EEG-Umlage. Von den 60 Milliarden Euro, die wir jetzt löschen, ist zudem noch kein Euro verausgabt. Es reduziert sich zunächst nur die bestehende Rücklage. 

Hätten sich das Bundesfinanzministerium zumindest nicht besser auf Urteil vorbereiten müssen? Es war bis Mittwoch nicht einmal klar, ob der Haushalt 2024 verabschiedet werden kann oder nicht.  

Lindner: Wir hatten mit Szenarien beim Klima- und Transformationsfonds und beim Wirtschaftsstabilisierungsfonds gerechnet. Es war aber nicht absehbar, dass sich das Verfassungsgericht so grundsätzlich mit den Fragen der Jährlichkeit, Jährigkeit und Fälligkeit beschäftigt. Deshalb musste ich die Auswirkungen auf alle Sondervermögen prüfen lassen. Jetzt haben wir neue Klarheit bei der Schuldenbremse. Und die will ich nicht umgehen, sondern anwenden. 

In jeder Krise liegt auch eine Chance. Haben Sie den Eindruck, bei den Koalitionspartnern ist die Botschaft angekommen, dass sich alle jetzt bewegen müssen, und das Staatsschiff wieder aus der Krise zu manövrieren? 

Lindner: Für die Bundesregierung jedenfalls kann ich das sagen. Wir müssen die Probleme gemeinsam lösen. Nicht nur, weil wir alle den aktuellen Zustand rechtlich heilen müssen, sondern auch, weil wir ambitionierte Pläne haben. Die Infrastruktur modernisieren zu wollen, ist ja nicht falsch. Bildung und Forschung zu stärken, nicht aus der Zeit gefallen. Die digitalen Netze müssen erneuert werden. Wir wollen Technologie voranbringen. Aber wir müssen jetzt andere Wege zu diesen Zielen finden, als noch 2021 im Dezember gedacht. 

Die Wirtschaft ist durch die Haushaltskrise tief verunsichert. Unternehmen bangen um die in Aussicht gestellten Förderungen. Was sagen Sie denen jetzt?

Lindner: Es gibt keinen Grund zur Panik. Rechtsverpflichtungen werden ohnehin eingehalten. Wir arbeiten darüber hinaus an Lösungen. Im Übrigen darf man die Bedeutung von Finanzhilfen nicht unterschätzen, aber auch nicht überschätzen. Es wäre eine schlechte Nachricht, wenn das Wohl und Wehe der deutschen Wirtschaft von Subventionen des Staats abhängen würde. 

Aber in den China und den USA winken den Konzernen riesige Subventionen. Wird die Schuldenbremse zum Standortnachteil? 

Lindner: Wir haben bereits enorm hohe Subventionen der Europäischen Union und aus dem Bundeshaushalt. Auch das Niveau staatlicher Investitionen ist bei uns auf Rekordhöhe. Einen Subventionswettlauf mit den USA und China können wir nicht gewinnen. Wir müssen unsere Standortbedingungen verbessern. Bessere Fachkräftegewinnung, weniger Bürokratie, schnelle Planungs- und Genehmigungsverfahren, Attraktivität für privates Kapital und so weiter. Das alles kostet kein Geld, sondern spart im Zweifel. Darüber hinaus verbessern wir die steuerlichen Rahmenbedingungen zum Beispiel durch das Wachstumschancengesetz.

Aber durch Bürokratieabbau werden sie kein Haushaltsloch im zweistelligen Milliardenbereich füllen können. 

Lindner: Wir werden über ein Paket an Maßnahmen sprechen. 

SPD und Grünen nennen als mögliche Maßnahmen eine Lockerung der Schuldenbremse. Ist das eine Möglichkeit?

Lindner: Nein. Die Schuldenbremse ist geltendes Verfassungsrecht. Sie ist gerade gestärkt worden. Sie schützt den Steuerzahler vor Überlastung durch Zins und Tilgung in der Zukunft. Im Übrigen würde die notwendige Zweidrittelmehrheit im Bundestag fehlen.

Es gibt ja auch kleinere Korrekturmöglichkeiten, etwa eine Anpassung der Konjunkturkomponente. Würden Sie das mitmachen?

Lindner: Das Verfahren wird immer wieder evaluiert und verbessert. Aber das hilft nicht bei der Konsolidierung. Was in einem Jahr an höherem Kreditspielraum eröffnet wird, reduziert die Konjunkturbereinigung danach in gleicher Weise wieder. 

Also wird es doch Steuererhöhungen geben? 

Lindner: Nein, im Gegenteil. In einer Phase geringer wirtschaftlicher Dynamik muss es darum gehen, Bürger und Unternehmen zu entlasten. Dafür steht diese Bundesregierung. Allein zum Jahresbeginn 2024 treten bei der Einkommensteuer Entlastungen von 15 Milliarden Euro in Kraft. Das ist der Kurs, den wir fortsetzen sollten. 

In der FDP wird es eine Mitgliederbefragung geben, ob die Partei die Ampelkoalition verlassen soll. Fürchten Sie das Ergebnis?

Lindner: Die FDP bestimmt deutlich den Kurs mit, den die Bundesregierung einschlägt. Um das zu sehen, muss man nur die Anträge für die Parteitage von SPD und Grünen lesen, die so ganz anders klingen als die derzeitige Regierungspolitik. Wenn fortwährend Steuererhöhungen gefordert werden, dann zeigt das doch den Einfluss der FDP. Denn stattdessen sinkt die Steuerlast für die Bürgerinnen und Bürger sowie die Betriebe. Solange es sich so darstellt, gibt es gar keinen Anlass, den ganzen Unsicherheiten, die es derzeit in der Welt gibt, noch eine weitere hinzuzufügen.

Aber bei den FDP-Mitgliedern bleibt doch hängen, dass der Finanzminister entgegen seiner ursprünglichen Zusage nun für dieses Jahr rückwirkend die Schuldenbremse aussetzen wird. Fürchten Sie einen Aufstand in der Partei?

Lindner: An der ökonomischen Wirkung ändert sich doch nichts. Denn etwa Strom- und Gaspreisbremse waren vorher schon mit einem Notlagenkredit finanziert, der nur auf der Ermächtigung des Jahres 2022 beruhte. Da schaffen wir jetzt Rechtssicherheit. Ansonsten argumentiere ich mit Zahlen. Als die Koalition im Jahr 2021 gestartet ist, lag die Schuldenquote Deutschlands bei 69 Prozent der Wirtschaftsleistung. Der Sachverständigenrat erwartet für das kommende Jahr 64 Prozent. Für 2023 hatten wir mit einem Defizit von 4,25 Prozent geplant. Nun werden wir voraussichtlich unter 2,5 Prozent landen. Kommendes Jahr erwartet der Sachverständigenrat 1,5 Prozent. Die finanzpolitische Trendwende kann man an Zahlen ablesen. Und die Haushaltskonsolidierung wird sie nach dem Urteil des Verfassungsgerichts weiter vorantreiben. 

Wo wollen Sie denn jetzt noch zusätzlich sparen? Bei den Subventionen, bei den Sozialausgaben? 

Lindner: Wir werden auch über Verbesserungen im Sozialstaat nachdenken. Bei dieser Frage schwingt ja der Vorwurf der sozialen Kälte mit. Ich halte das für unbegründet. Wenn wir etwas tun, damit Menschen aus dem Bürgergeld in Arbeit kommen, dann hat das doch einen doppelten Nutzen. Es verbessert die soziale Teilhabe der Menschen und es entlastet den Staatshaushalt. 

Und was ist mit dem Abbau der Subventionen? Das ist im Koalitionsvertrag verabredet. Liefert die Ampel nun endlich?

Lindner: Subventionsabbau klingt abstrakt gut, aber wenn es konkret wird, dann kommen die Klagen. Ja, wir werden uns vieles ansehen. 

Selbst aus der Union kommen mittlerweile Rufe nach einer Abschaffung der Schuldenbremse. 

Lindner: Die sind nicht neu. Der frühere Kanzleramtschef Helge Braun hatte das schon zum Ende der vergangenen Legislaturperiode in einem Gastbeitrag im Handelsblatt Lockerungen gefordert. Auch Markus Söder hat sich so eingelassen. Für die FDP ist klar: Wir stehen zur Schuldenbremse. Der Staat hat kein Einnahmeproblem. Im Bundeshaushalt des kommenden Jahres sind bisher 450 Milliarden Euro an Ausgaben geplant. Der Gesamtstaat wird bald die Grenzen von einer Billion Euro bei den Einnahmen überschreiten. Da könnte man doch zu dem Schluss kommen, dass das vielleicht ausreicht. Mindestens haben wir noch nicht den Grad an Disziplin und Effektivität der Staatsausgaben erreicht, dass es strukturelle Einnahmeproblem gäbe.

Können Sie in Europa jetzt überhaupt noch als Mahner für solide Staatsfinanzen auftreten?

Lindner: Wie gesagt, das Urteil ändert nichts an unseren ökonomischen Zahlen. Und da ist Deutschland Goldstandard.