Deutschland benötigt dringend den wirtschaftlichen Turnaround.

Christian Lindner Wirtschaftswende
FOCUS

Lesedauer: 8 Minuten

 

Herr Lindner, wie will diese Regierung das Land gut durch all die gegenwärtigen Krisen führen, wenn sie so schlecht übereinander spricht?

Lindner: Ich spreche nicht schlecht über andere.

Und das gilt auch für Ihre Kabinettskollegen?

Lindner: Ich beschwere mich nicht. Natürlich agiert die Koalition geräuschvoll. Streit ist in der Demokratie aber keine Krankheit, sondern Ausdruck von Lebendigkeit. Die Freien Demokraten stehen für Freiheit, Weltoffenheit, Leistungsfreude und Respekt vor Eigentum. Auf der anderen Seite stehen zwei Parteien von links der Mitte. Wir haben das Land dennoch gut durch die Krisen geführt.

Ihr Ernst?

Lindner: Absolut. Erstens haben wir 2021 die Corona-Politik der CDU korrigiert, indem wir auf Lockdowns verzichtet haben. Wer ein gutes Gedächtnis hat, der muss ja schmunzeln, wenn die Union jetzt „Freiheit“ auf ihre Plakate schreibt. Es gab zweitens nach dem Angriff auf die Ukraine große Ängste vor wirtschaftlichen Strukturbrüchen. Die haben wir verhindert. Und drittens hat unsere stabilitätsorientierte Fiskalpolitik dazu beigetragen, dass die Inflation seit 2022 wieder gesunken ist.

Sie und Ihre Partei werden häufig als Bremser wahrgenommen, während Sie vielen FDP-Anhängern als Verräter erscheinen.

Lindner: Wir setzen viel von unserem Programm positiv um, von Steuerentlastungen, über Investitionen in Digitalisierung, Bildung und Bundeswehr bis hin zu geordneter Einwanderung und marktwirtschaftlichem Klimaschutz ohne Verbote. Gleichzeitig ist es aber wahr, dass wir Schuldenexzesse, Steuererhöhungen, Bürokratie und Bevormundung blockieren. Kritik daran muss ich aushalten. Eine Koalition ist keine Liebesheirat.

Trotz der netten Selfies zur „Fortschrittskoalition“?

Lindner: Nun ja, die Wahlprogramme konnte jeder lesen.

Wie erleben Sie die Stimmung im Land?

Lindner: Es gibt große Unsicherheit und Verlustängste. Wir sind nach der Ära Merkel in einer neuen Realität aufgewacht. Geopolitisch, ökonomisch und gesellschaftlich wird die Lage rauher. Jetzt ist es unsere Aufgabe, in dieser Lage ein Momentum des Aufbruchs zu erreichen. Denn wir sind nicht Objekte des Schicksals, wir haben es in der Hand.

Unser Eindruck ist ja, dass es eine seltsame Diskrepanz gibt zwischen der Größe der Herausforderungen und der Kleinteiligkeit der Debatten. Und das trifft für alle Bereiche der Gesellschaft zu, für die Politik in Berlin genauso wie fürs alltägliche Leben der Bürger. Wir regen uns schnell auf, wir steigern uns schnell in etwas hinein – und zwei Tage später gibt es dann schon den nächsten Aufreger. Wir verhaken uns im Klein-klein und schaffen es nicht, die großen Fragen zu diskutieren.

Lindner: Meine Realität ist eine andere.

Nämlich?

Lindner: Jeden Tag arbeite ich dafür, eine neue Balance zwischen Staat und Privat zu erreichen. Denn der Staat hat sich seit 2019 massiv ausgedehnt. Jeden Tag arbeite ich dafür, dass wir über eine Wirtschaftswende wieder die Wettbewerbsfähigkeit erreichen, die über zehn Jahre verloren wurde. Jeden Tag arbeite ich an der Modernisierung unseres Staates. Jeden Tag arbeite ich dafür, dass wir Frieden und Freiheit verteidigen können, nachdem sie durch Russlands Angriff auf die Ukraine bedroht sind. Das kleinteilige Oberflächen-Gekräusel überlasse ich anderen.

In vielen Gesprächen mit Unternehmerinnen und Unternehmern begegnen uns immer wieder Kopfschütteln, Unverständnis, mitunter auch Wut auf die Regierung. Was begegnet Ihnen?

Lindner: Ich verstehe die Ungeduld, aber Wut auf die Regierung nur teilweise. Wir haben in vielen Politikfeldern einen Scherbenhaufen von der CDU übernommen – Stichwort Asyl und Migration oder Energiepolitik. Ja, mehr Tempo der Regierung wäre wünschenswert. Aber die FDP sorgt dafür, dass die Richtung stimmt.

Laut BDI-Präsident Siegfried Russwurm soll ein Drittel der mittelständischen Unternehmen inzwischen an einem Wegzug aus Deutschland arbeiten.

Lindner: Das sagen Sie mit einer Betroffenheit, die merkwürdig klingt.

Ist die nicht gerechtfertigt?

Lindner: Doch, aber bei Ihnen klingt es unernst. Mir ist es bitterernst, wenn ich sage: Deutschland benötigt dringend einen wirtschaftlichen Turnaround.

Wie viele Unternehmen, die jetzt mit dem Weggang drohen, werden am Ende das Land verlassen?

Lindner: Keines.

Warum nicht?

Lindner: Weil es unverantwortbar wäre, wenn die Koalition sich nicht auf eine Politik für eine Wirtschaftswende verständigte.

Was Wachstum und Wettbewerbsfähigkeit angeht, werden wir seit Jahren nach hinten durchgereicht.

Lindner: Hey, der Text ist von mir. Auf unserem Bundesparteitag im Mai habe ich die Zahlen offengelegt. 2014 waren wir Platz 6 des globalen Standortrankings, dann sind wir von Jahr zu Jahr zurückgefallen bis auf Platz 22. Unser Potentialwachstum beträgt nur 0,5 Prozent, in den USA sind des 2 Prozent. Deshalb wüssen wir die Bremsen für Wachstum lösen, wo sie uns begegnen.

Wo genau?

Lindner: Erstens Bürokratie. Das neue marktwirtschaftliche Klimaschutzgesetz ist ein Baustein der Wirtschaftswende, am besten entschlacken wir aber auch das Lieferkettengesetz der Großen Koalition. Zweitens enthalten Wachstumschancengesetz und Zukunftsfinanzierungsgesetz Impulse für Investitionen und Forschung. Aber wir müssen weitergehen und die Belastung der Wirtschaft insgesamt reduzieren, damit der Standort attraktiver wird. Drittens Arbeitsmarkt. Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hilft, um neue Talente zu gewinnen. Aber wir müssen auch an die Arbeitsanreize im Bürgergeld ran. Viertens Energiepolitik: Wir haben zum Beispiel in Windeseile Flüssiggas-Terminals gebaut, Verfahren beschleunigt und die CCS-Technologie wird in Deutschland erlaubt. Aber wir müssen weitergehen. Bezahlbarkeit und Sicherheit der Energieversorgung sollten gleichrangig zu Dekarbonisierung betrachtet werden.

Die Energiepreise sind in Deutschland nach dem großen Ukraineschock noch immer nicht auf ein global wettbewerbsfähiges Level zurückgekehrt.

Lindner: Das Niveau liegt immerhin auf Vorkrisen-Niveau. Im Bereich der Energie wurden Entscheidungen getroffen, die unsere Abhängigkeit etwa von russischem Gas erhöhten…

… was uns eine Art Sonderkonjunktur beschert hat.

Lindner: Umso schmerzhafter war das Erwachen. Der Rückblick hilft aber nicht. Wir müssen uns den Themen stellen. Beim Netzausbau werden wir zur Senkung der Kosten öfter auf  Freileitungen setzen müssen. Photovoltaik und Windkraft erhalten in diesem Jahr 19 Milliarden Euro Subventionen aufgrund der Zusagen der letzten zwanzig Jahre. Das können wir beenden, da die Erneuerbaren längst marktgängig sind. Schrittweise sinkt dann die Belastung.

Aber diese Zeit haben Sie nicht, weil Ihnen unter anderem die Unternehmen im Nacken sitzen und öffentlich Druck machen, nach dem Motto: Wenn’s nicht bald besser wird, sind wir weg.

Lindner: Ein Standortfaktor wie Energie ist wichtig, aber entscheidend ist die Summe aus Bürokratie, Arbeitsmarkt, Steuer, Energie und Infrastruktur. Wir müssen an allen arbeiten. Ich bin weder Schwarzmaler noch Gesundbeter. Manche Branchen werden wachsen, andere stagnieren. Eines gilt aber überall: Mit einer Vier-Tage-Woche bei vollem Lohnausgleich werden wir es jedenfalls nicht schaffen. Wohlstand sichern ohne Anstrengung wird nicht gelingen.

Sie sind kein Freund von weniger Arbeit?

Lindner: Das muss jeder für sich entscheiden. Aber die Reduzierung der Arbeitszeit ist in der Regel mit Einschränkungen des Lebensstandards verbunden.

Arbeitsdauer ist doch auch eine Frage der Produktivität, oder?

Lindner: Ja. Die Firma Stihl hat zuletzt erwogen, verstärkt in der Schweiz zu investieren. Unter anderem, weil in der Schweiz hunderte Stunden pro Kopf und Jahr mehr gearbeitet wird.

Wie kriegt man wieder Zuversicht ins Land?

Lindner: Die Bundesregierung sollte im Sommer couragierte Maßnahmen für eine Wirtschaftswende vorstellen. Das kann die Aktiverungsenergie bringen, die wir brauchen.

Wird so eine Binnenkonjunktur, wie wir sie nach der Finanzkrise erlebt haben, jemals wiederkommen?

Lindner: Denkbar. Aber auch damals war die Sparquote der Bürger hoch. Wachstum und globale Wettbewerbsfähigkeit, niedriger Zins und Nachfrage aus China haben uns das Leben leichter gemacht. Schade, dass diese Jahre nicht besser genutzt wurden.

In der Debatte um die Schuldenbremse sagen Sie immer, dass die aktuellen Umbrüche keine Ausnahme rechtfertigen würden. Aber tatsächlich ist es doch so, dass die Wirtschaft immer noch unter den Spätfolgen von Corona leidet; dass wir einen Krieg in Europa haben und die neuen geopolitischen Unsicherheiten auch die Wirtschaft treffen; dass wir immer stärker die Folgen des Klimawandels spüren und – auch darüber haben wir gesprochen – die deutsche Wirtschaft vor dem größten Umbau seit der Industrialisierung steht. Also wenn im Augenblick nicht ganz schön was zusammenkommt, wann dann?

Lindner: Was Sie beschreiben ist nicht eine Ausnahmesituation, sondern das ist die neue Welt.

Die Schuldenbremse wurde aber noch in der alten Welt gemacht.

Lindner: Manches hat sich bewährt. Auf die Herausforderungen der neuen Weltlage müssen wir ökonomisch umsichtig reagieren. Wenn wir strukturelle, langfristige Aufgaben vorrangig mit Schulden finanzieren wollten, würde uns die Zinslast erdrücken. Bald müssten wir Steuern erhöhen, um Zinsen zu zahlen. Das würde uns strangulieren. Im Gegenteil, fiskalische Resilienz ist nicht nur eine Frage der Generationengerechtigkeit, sondern auch ein Faktor geopolitischer Stärke.

Trotzdem braucht das Land viel Geld. Arbeitgeber und Gewerkschaften rechnen in einer gemeinsamen Studie mit 600 Milliarden Euro zusätzlich in den nächsten zehn Jahren. Woher sollen solche Summen kommen?

Lindner: Die benötigten Investitionen sind vor allem privat – im Verhältnis von etwa 8:1. Was der Staat an öffentlichen Ausgaben übernehmen muss, können wir bei entsprechendem politischen Willen realisieren. Schon jetzt haben wir Rekordinvestitionen, wenn ich Bahn und Digitalisierung sehe. Mehr ist möglich, wenn wir nicht immer mehr Steuergeld in Umverteilung, Bürokratie und Zinsen stecken.

Verteidigungsminister Boris Pistorius will mehr Geld für die Bundeswehr. Warum geben Sie’s ihm nicht?

Lindner: Seit mindestens 25 Jahren hat kein Finanzminister der Bundeswehr so viel ermöglicht wie ich. Die Landes- und Bündnisverteidigung sowie die Unterstützung der Ukraine stehen für mich ganz oben auf der Prioritätenliste. Das Ziel, zwei Prozent unseres Bruttoinlandsprodukts in die Verteidigung zu investieren, werden wir in den kommenden Jahren einhalten. Trotzdem muss man jeden Mehrbedarf handwerklich sauber begründen und diskutieren.

Ist Herr Pistorius also kein guter Handwerker?

Lindner: Ich bin der Anwalt der Steuerzahler. Deshalb muss ich alle Mehrforderungen präzise prüfen. Immer muss geschaut werden, ob unternehmerisch klug mit dem Geld umgegangen wird.

Nochmal: Agiert das Verteidigungsministerium unternehmerisch und handwerklich suboptimal?

Lindner: Legen Sie mir bitte nichts in den Mund. Forderungen werden öffentlich erhoben, aber ich debattiere sie nicht öffentlich. Am Ende muss ein Haushalt stehen, der den Anforderungen der Zeit standhält. Und zwar mit geringere Steuerlast und unter Wahrung der Schuldenbremse. Dafür müssen wir Schwerpunkte verschieben.

Sie würden sicher lieber am Sozialetat sparen.

Lindner: Die Sozialausgaben liegen gut 42 Milliarden Euro über denen von 2019. Dennoch gibt es Wünsche nach höheren Ausgaben. Alex Möller, der erste SPD-Finanzminister, hat einst dazu geraten, man möge bitte die Tassen im Schrank lassen. Das ist aktueller denn je.

Welche Meilensteine erwarten Sie eigentlich noch in der Ampel-Koalition bis zur nächsten Bundestagswahl?

Lindner: Darüber mache ich mir Gedanken im Lichte der Beratungen des Haushalts für 2025 und der Wirtschaftswende.

Und bis dahin verliert die Ukraine mangels Unterstützung den Krieg?

Lindner: Deutschland ist der zweitgrößte Unterstützer nach den USA. Wir arbeiten auch an weiterer Hilfe. Im Kreis der G7-Finanzminister prüfen wir, ob wir die Erträge aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten besser nutzen können. Denkbar ist eine Hebelung, um sofort eine große Summe zu mobilisieren.

Sie wollen auf dem Fundament des Geldes der russischen Zentralbank also einen Kredit aufnehmen?

Lindner: Darauf läuft ein entsprechender Vorschlag der USA hinaus. Das Instrument wäre umsetzbar und smart, wenn eine faire Lastenteilung zwischen allen Beteiligten garantiert, das rechtliche Risiko minimiert und die Haftung für den deutschen Steuerzahler streng begrenzt wäre.

In zwei Wochen treffen sich die G7-Staatschefs in Apulien. Wird es dann schon Ergebnisse geben?

Lindner: Die Machbarkeit sollte bis dahin geklärt sein.