Bauen wir Deutschland neu

Christian Lindner
Handelsblatt

Lesedauer: 7 Minuten

 

Der erste Satz des Entwurfs des FDP-Wahlprogramms lautet: „Wie es ist, darf es nicht bleiben“ Ist es so schlimm in Deutschland?

Lindner: Teils verpassen wir Chancen, teils gleicht das Land einem Sanierungsfall. Die Wirtschaftskraft wurde vor der Pandemie nicht gepflegt, sondern verbraucht. Jetzt sind alle Reserven weg. Das Bildungssystem ist rückständig, das Sozialsystem nicht nachhaltig. Die Integration vieler Einwanderer ist noch eine Aufgabe. Wichtige Infrastruktur für die Digitalisierung und den Ausbau erneuerbarer Energien fehlt. Veränderung tut not.

CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet verspricht ein „Modernisierungsjahrzehnt“, Olaf Scholz kündigt für die SPD eine „Zukunftsregierung“ mitsamt Investitionsoffensive an. Das Thema besetzen also schon andere.

Lindner: Deren Glaubwürdigkeit nach vielen Regierungsjahren werden die Menschen einschätzen. Es wird Veränderungen geben, das ist klar. Die Frage ist, welche Richtung wir einschlagen. Die einen wollen über den Staat dirigieren, besteuern, subventionieren oder verbieten; unsere Alternative ist, über den Staat einen Rahmen zu setzen, aber ansonsten auf die Freiheit zu vertrauen und die private Initiative wie den Erfindergeist zu mobilisieren.

Grünen-Chefin Annalena Baerbock dringt in das FDP-Revier ein: Sie tritt beim Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) oder beim Familienunternehmertag auf, und kommt dort sogar recht gut an. Wie sehr wurmt Sie das?

Lindner: Wir scheuen den Wettbewerb der Ideen nicht, aber Ihre Beobachtung scheint mir nicht aktuell. Der BDI hat das Wahlprogramm der Grünen kommentiert mit den Worten „viel Schatten, wenig Licht“. Und die Familienunternehmer haben gerade sogar eine Kampagne gegen die grüne Steuerpolitik beschlossen.

Gerade für jüngere Unternehmer sind die Grünen kein Schreckgespenst mehr. Unter Startups haben sie inzwischen mehr Anhänger als die FDP – dabei müsste das doch ein Heimspiel für Sie sein.

Lindner: Auch Gründerinnen und Gründer sind divers und haben unterschiedliche Wertvorstellungen und wirtschaftliche Interessen. Warten wir den Vergleich der Wahlprogramme ab. Mit unseren Ideen für mehr Wachstumskapital, Technologiefreundlichkeit, einer gezielten Einwanderungspolitik und Abbau von Bürokratie haben wir ein Angebot gemacht.

Die FDP fordert einen „Entfesselungspakt“ für die Wirtschaft. Wie soll der aussehen?

Lindner: Der öffentliche wie der private Sektor müssen von der bürokratischen Selbstfesselung befreit werden. Wenn wir Deutschland neu bauen wollen, müssen wir an vielen Punkten ansetzen, von der Handhabbarkeit des Steuerrechts oder des Datenschutzes über Dokumenationsverpflichtungen und Beauftragte bis zur Bauordnung und vor allem dem Planungs- und Genehmigungsrecht.

Braucht Deutschland auch eine Staatsreform, um das Zuständigkeitsdickicht des Föderalismus zu lichten?

Lindner: Ich gehe davon aus, dass dazu eine Kommission von Bund und Ländern eingerichtet wird. Schließlich datiert die letzte Föderalismusreform aus dem Jahr 2009. Die politische Debatte fokussiert sich aber zu stark auf den öffentlichen Sektor: Die neuen Arbeitsplätze in der digitalen Welt entstehen nicht in Behörden, und unsere Klimaziele erreichen wir nicht in Ministerien, sondern durch Innovationskraft.

Sie haben einen Investitionspakt für Deutschland angekündigt: Sie wollen die Wirtschaft um 60 Milliarden Euro entlasten, um so 120 Milliarden Euro Investitionen zu mobilisieren. Wie wollen Sie sicherstellen, dass aus einem Euro Entlastung tatsächlich zwei Euro an Investitionen werden?

Lindner: Von links der Mitte höre ich öfters, man müsse Mittelstand und Industrie irgendwie zwingen. Dieses Bild haben wir nicht. Die deutsche Wirtschaft ist längst auf dem Weg zu Digitalisierung und Dekarbonisierung. Wir müssen sie nur machen lassen. Viele würden stärker investieren, wenn man ihnen die Mittel belässt und den Standort Deutschland insgesamt attraktiver macht.

Müssten Sie dann nicht ehrlicherweise von einem Steuersenkungspakt sprechen und nicht von einem Investitionspakt?

Lindner: Nein, denn wir würden die reine Entlastung ergänzen um Planungsbeschleunigung, Beseitigung von Technologieverboten und verbesserte Abschreibungsmöglichkeiten.

Trotzdem: Ist Ihr Hebel von 100 Prozent nicht arg optimistisch?

Lindner: Wir stützen uns auf die empirische Wirtschaftsforschung oder Empfehlungen des Kronberger Kreises. Dort geht man teilweise sogar von noch größeren Hebeln aus. Die letzte große Steuerreform, die von Rot-Grün und mit Zustimmung der FDP beschlossen wurde, hat die Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands verbessert und Investitionen gestärkt. Natürlich gibt es noch andere Gründe, warum Deutschland bei ausländischen wie inländischen Investitionen zurückgefallen ist: Die Energiekosten sind zu hoch, der Zustand der öffentlichen Infrastruktur verbesserungsbedürftig, qualifizierte Mitarbeiter nicht genügend verfügbar.

Sie wollen zusätzlich die Einkommensteuer für Bürger senken und den Soli komplett abschaffen. Da kommen auf den Bundeshaushalt große Steuerausfälle zu. Wann wollen Sie die schwarze Null wieder einhalten?

Lindner: Die schwarze Null ist das Ziel, auf dem Weg dorthin müssen wir baldmöglichst die Schuldenbremse wieder einhalten. Aber zu Beginn des Turnarounds ist ein Defizit für Entlastungen und Investitionen unvermeidlich. Ziel unsere Politik ist es, das Wachstum der Volkswirtschaft zu verstärken, damit sich der Staat aus seinen Schulden befreien kann. Das ist zugleich die wirtschaftliche Grundlage, um soziale und ökologische Ziele zu realisieren. Unsere Mittbewerber von Grünen, SPD und Union konzentrieren sich aus meiner Sicht zu stark auf Konsumausgaben, die uns keine zusätzliche Dynamik bringen.

Schließen Sie Steuererhöhungen nach der Wahl aus?

Lindner: Ja.

Die Union ist da weniger rigoros. Selbst Friedrich Merz sagt, es brauche erstmal einen Kassensturz nach der Corona-Pandemie.

Lindner: Das zeigt die Unterschiede: Grüne, SPD und Linkspartei plädieren für mehr Steuern, übrigens in der Einkommensteuer bereits für Familienbetriebe und die qualifizierte Fachkraft. Mit diesen Steuern sollen dann zusätzliche Sozialtransfers bezahlt werden. Andersherum wäre richtig: Erst durch zusätzliche Dynamik in der Wirtschaft die Voraussetzungen schaffen, dass danach nachhaltig finanziert über neue Staatsaufgaben gesprochen werden kann. Für die FDP kann ich daher sagen: Mit uns gibt es keine Erhöhung der Steuerlast.

Ist das also eine rote Linie in möglichen Koalitionsverhandlungen?

Lindner: Mit Ausnahme von Google, Apple, Amazon und Facebook. Die können einen höheren Beitrag zur Finanzierung des Gemeinwesens leisten. Davon abgesehen kenne ich niemanden, der zu wenig Steuern zahlt. Jede Partei muss kompromissbereit sein, aber jede Partei hat auch Grenzen, die man respektieren muss. Wenn Steuererhöhungen bei Grünen, SPD und CDU kein Selbstzweck sein sollten, worüber ich mir nicht immer klar bin, wird man sich einigen können.

Das Verfassungsgericht hat die Politik verdonnert, den Klimaschutz nicht auf die lange Bank zu schieben. Sie aber warnen, auch die heutige Generation dürfe nicht unverhältnismäßig belastet werden. Welcher CO2-Preis ist denn für Sie unverhältnismäßig?

Lindner: Die Frage kann ich nicht beantworten, da wir eine andere Strategie empfehlen. Wir brauchen einen marktwirtschaftlichen Prozess, bei dem sich die günstigsten und effektivsten Formen der CO2-Einsparung durchsetzen.

Der Markt braucht aber Preissignale. Wäre es unverhältnismäßig, den CO2-Preis schon ab 2022 auf 45 Euro pro Tonne steigen zu lassen, so wie es die CSU vorschlägt?

Lindner: Der CO2-Preis für Energie und Industrie liegt bei 50 Euro. Was soll überhaupt der Sinn der Erhöhung sein?

Einen Anreiz zu schaffen, klimaschädlichen Energieverbrauch einzusparen.

Lindner: Das funktioniert nur teilweise. Die verkappte CO2-Steuer in Deutschland lebt vom Prinzip Hoffnung, dass höherer Preis schon zu Vermeidung führt. Bei der rot-grünen Ökosteuer ist das gescheitert. Denn die Menschen sind nicht weniger Auto gefahren, am Ende blieb eine neue Einnahmequelle für den Staat. Deshalb kommen dann zum Beispiel Technologieverbote und Subventionen oben drauf. Das macht alles ineffizient. Wir schlagen daher ein CO2-Limit für Deutschland vor, das über einen marktwirtschaftlichen Handelsmechanismus auf die unterschiedlichen Sektoren aufgeteilt wird. Die CO2-Einsparung ist garantiert. Aber zugleich lösen wir die Investitionsbremsen bei der Genehmigung von Infrastruktur und wir erlauben uns eine offene Debatte über Technologien wie der Speicherung von C02, Wasserstoff und synthetischen Flüssigtreibstoffen.

Ist eine Nachbesserung des Klimaschutzgesetzes vor der Bundestagswahl noch realistisch?

Lindner: Ein Klimakonsens wäre sinnvoll. Wir hätten berechenbare Rahmenbedingungen, statt nach jedem Regierungswechsel Änderungen vorzunehmen. Es ist bedauerlich, dass die Große Koalition einen Schnellschuss vorzieht und dass die Grünen erklärt haben, ohnehin jedes Paket aufschnüren zu wollen.

Sie schreiben im Programm: „Fortschritt geht nur nach vorne durch die Mitte“. Wenn die FDP die Mitte ist, wo verorten Sie dann die anderen Parteien?

Lindner: Die Grünen beschreiben sich selbst als links. Vom Mietendeckel bis hin zur Debatte, ob das Wort Deutschland aus dem Programmtitel gestrichen werden soll, sieht man das auch. Leider lässt sich auch die Union von den Grünen treiben. 

Sie sehen die Union als eine Partei links der Mitte?

Lindner: Ich beschreibe nur Inhalte. Die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel war grün. Friedrich Merz schließt Steuererhöhungen nicht aus. Armin Laschet will einen Fonds neben dem Bundeshaushalt, der zusätzliche Schulden aufnehmen kann. Das passt nicht zu Schuldenbremse und Maastricht-Vertrag, aber auch nicht zur bisherigen Politik der Union.

Wenn Sie sich nach der Bundestagswahl auf Koalitionsverhandlungen einlassen, müssen Sie auch springen. Noch ein Rückzieher wie 2017 wäre kaum zu vermitteln, schon damals war die Kritik massiv. Sind Sie zum Regieren gezwungen?

Lindner: Es ist ein Missverständnis, dass wir nicht gerne regieren. Schon 2017 war es auch für mich kein leichter Entschluss, auf das Amt des Finanzministers zu verzichten. Dieses Mal sieht es mit neuen Persönlichkeiten und in anderer Lage besser aus. Klar ist aber, dass man sich weiter auf uns verlassen kann. Es wäre eine schlechte Pointe, wenn wir uns 2017 mutig gegen den Eintritt in eine Regierung entscheiden, um dann vier Jahre später doch für Ministerposten und Dienstwagen alle Überzeugungen zu verraten.