Deutschland braucht eine neue Bildungsverfassung. Sie kann der Schlüssel für mehr Qualität und Alltagstauglichkeit im Bildungssystem sein. 63 Prozent der deutschen Lehrer wünschen sich mehr Gestaltungsfreiheit für ihre Arbeit. Zugleich beklagen Familien, Lehrer und Arbeitgeber lästige Hürden durch den Bildungsföderalismus.

Deshalb muss eine erneuerte Bildungsverfassung dem Subsidiaritätsprinzip folgen: so viel Autonomie für die Beteiligten vor Ort wie möglich, aber so viel Koordination und Kooperation unter den Ländern und mit dem Bund wie nötig. Dafür muss ein folgenschwerer Irrtum der letzten Jahre korrigiert werden: das bildungspolitische Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern.

Im Zuge der Föderalismusreform I des Jahres 2006 sollten die Mischfinanzierungsmöglichkeiten, das sind Aufgaben, die der Bund und die Länder zusammen finanzieren, im Grundgesetz beseitigt werden. Deshalb wurden dem Bund Finanzhilfen an die Länder zum Beispiel für Bildung und Forschung untersagt. Zuvor hatte er sich am Ausbau von Ganztagsschulen beteiligt. Die Länderseite fürchtete aber fachliche Vorgaben des Bundes und damit die Erosion ihres verfassungspolitischen „Hausguts“, der Kultushoheit.

Die Schweiz hat 2006 ebenfalls ihren Bildungsföderalismus neu geordnet. In einem Referendum haben sich 90 Prozent der Schweizer für eine stärkere Harmonisierung der eidgenössischen Bildungslandschaft entschieden. Dort hat der Bund nun das Recht einzugreifen, wenn die Kantone sich nicht auf Standards einigen. Paradox: Während in Deutschland ein Kooperationsverbot beschlossen wurde, gilt in der Schweiz nun ein Kooperationsgebot.

Wir sollten vom Beispiel der Schweiz lernen, zumal die Länder allein an ihren Aufgaben zu scheitern drohen. Zum einen sind sie durch die Schuldenbremse gehalten, ihre Haushalte bis zum Ende dieses Jahrzehnts zu entschulden. Zum anderen stehen Investitionen zum Beispiel für den weiteren Ausbau von Ganztagsangeboten, die Inklusion behinderter Schüler, die Qualifikation der Lehrer und die Aufwertung der Frühförderung vor der Einschulung an. Nimmt man beides zusammen, so droht die Schuldenbremse zum Strick zu werden, an dem die Bildung aufgehangen wird.

Dazu darf es nicht kommen. Deshalb gibt es inzwischen ein Bündnis von Experten und Praktikern, die eine Rücknahme des Kooperationsverbots fordern: von den Lehrerverbänden, den Hochschulrektoren und den Leitern der Gymnasien, über die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Expertenkommission „Forschung und Innovation“ der Bundesregierung bis hin zu in letzten 91 Prozent der Eltern, die sich für eine Reform des Bildungsföderalismus aussprechen. Auch innerhalb der Parteien wird diskutiert. Es ist keine gewagte Schätzung, dass bei einer freien Abstimmung eine verfassungsändernde Mehrheit im Deutschen Bundestag erreicht würde. Bemerkenswert ist, dass auch Landtagsfraktionen entsprechende Beschlüsse gefasst haben.

Die FDP war die erste Partei, die in Deutschland die ideologischen Debatten über die Schulstruktur durch pragmatische Lösungen überwunden hat. Nun müssen die Liberalen zu den ersten gehören, die eine an praktischen Ergebnissen orientiere Reform des Bildungsföderalismus ermöglichen – um damit auch die zweifelnden Unionsparteien zur Klarheit zu zwingen. Wenn die Union sich bewegt, wäre eine Verfassungsänderung binnen eines Jahres erreichbar.

Freilich wird das nur ein erster Schritt sein, der Finanzierungsprobleme bei Schlüsselprojekten entschärft. Eine regional hochmobile Gesellschaft braucht zudem Standards in ihrem Bildungssystem, die Familien, Studierenden und Lehrkräften das Leben einfacher machen. Heute sind die Hürden beim Umzug in ein anderes Bundesland unverhältnismäßig hoch: Schüler sind entweder in ihrer neuen Schule unter- oder überfordert. Nicht wenige Eltern lassen ihre Kinder dann ein Schuljahr wiederholen. Studienanfänger stellen fest, dass unter Hochschulreife Unterschiedliches verstanden wird. Und ein Physiklehrer muss bei einer Bewerbung in ein anderes Bundesland erfahren, dass die Naturgesetze dort zwar genauso gelten, nicht aber sein Examen.

Die Kultusministerkonferenz muss deshalb durch eine Bildungskonferenz ersetzt werden, die den Entscheidungsstau auflöst und bundesweit vergleichbare Standards umsetzt. Dabei sollten nicht Lehrpläne vereinheitlicht werden, sondern Abschlüsse und die Lernziele, die in einer Jahrgangsstufe erreicht sein müssen. Der Wechsel von nur einstimmig zu fassenden Beschlüssen zu Mehrheitsentscheidungen könnte der Turbo sein. Bisher bestimmt ja der langsamste Tanker das Tempo des gesamten Geleitzugs. Nach dem Vorbild des „Wissenschaftsrats“ im Hochschulbereich sollte der Rat von Praktikern und Experten einbezogen werden.

Das ist keine Absage an den Bildungsföderalismus. Im Gegenteil entfaltet er erst dann seine positive Wirkung, wenn sich der föderale Wettbewerb um beste Ergebnisse und beste Qualität dreht – und nicht zur Vermehrung von Bürokratie beiträgt.