Das Demokratie-Experiment Stuttgart 21 zeigt, dass sich direkte demokratische Verständigung lohnt. Die Schlichtung hat hunderttausende Fernsehzuschauer interessiert, schuf Vertrauen durch Transparenz und fand neue Lösungen. Die Akzeptanz für das Projekt in der Bevölkerung ist gewachsen. Aus den Stuttgarter Erfahrungen müssen wir Konsequenzen für unser politisches System ziehen: Wie beteiligen wir Bürger besser an politischen Entscheidungen, damit wir zu einer neuen Balance zwischen Rechtsstaat, Reformfähigkeit und Bürgerakzeptanz finden?

Liberale wollen Bürgerdemokratie. Sie ist kein populistisches Tribunal der Straße, sondern im republikanischen Sinn die rechtsstaatlich gesicherte Selbstregierung der Bürger durch Bürger und für Bürger. Legitimität und Verantwortung entstehen durch Verfahren - sowohl durch formale, gesetzlich beschriebene Verfahren als auch durch informelle Beteiligungsverfahren der Politik. Demokratische Regierungsfähigkeit setzt beides voraus: gutes Recht und guten Diskurs. Deutschland braucht Rahmenbedingungen für einen politischen Such- und Lernprozess, der die "Weisheit der Vielen" nutzt. Allerdings lassen sich demokratische Entscheidungen nach Luhmann nicht allein durch die Kategorien Anerkennung und Zwang legitimieren. Er beschreibt das politische Verfahren als kollektiven Lernprozess, aus dem am Ende eine gemeinsame Geschichte der Betroffenen wird. Miteinander reden, statt übereinander: So entsteht Akzeptanz. Unsere Republik braucht deshalb jetzt eine Debatte über Demokratie und ihre Verfahren: über die Stärkung der repräsentativen Demokratie, über ihre Ergänzung durch direkt-demokratische Entscheidungen und über neue, vielleicht sogar experimentelle Formen der Bürgerbeteiligung.

Wir leben in einer Massengesellschaft, die ohne Parteien und Parlamente nicht regiert werden kann. Das Parlament ist die Herzkammer der Demokratie. Hier kann etwas institutionelle Phantasie nicht schaden: Nach dem Vorbild der Laien im Gerichtswesen könnten zufällig ausgewählte Bürger in einer"Bürgerkammer" Expertenanhörungen durchführen und ein "Bürgergutachten" als Empfehlung an die Parlamentarier erstellen. Auf kommunaler Ebene hat man mit Vergleichbarem gute Erfahrungen gemacht. Einer zufällig ausgewählten "Bürgerkammer" kann schließlich keiner den Vorwurf machen, angeblichen Lobbyinteressen zu folgen oder sich vom wirklichen Leben abzukoppeln. Notwendige, aber unpopuläre Entscheidungen könnten so neue Akzeptanz gewinnen. Für ein solches Instrument müsste zudem kein einziges Gesetz geändert werden, weil es sich um ein informelles Verfahren handelt.

Direkte Demokratie in formalisierter Form kann sinnvoll sein, wenn umstrittene Themen breite Aufklärung und demokratische Klarheit fordern. Die Option eines Volksentscheids gehört aber an den Beginn eines Großprojekts und nicht an den Schluss. Andernfalls werden Rechtsstaatlichkeit und Planungssicherheit beschädigt. Wenn die politische Beteiligung bei Großprojekten am Beginn ausgeweitet wird, dann können im Gegenzug die formalen Verfahren des Rechtsstaates entlastet und beschleunigt werden. So könnte etwa die Verbandsklage von unbeteiligten und nur politisch motivierten Gruppen entfallen, wenn der Souverän entschieden hat.

Direkte Demokratie ist allerdings kein Wundermittel: Sie stärkt nicht den einzelnen Bürger oder die differenzierte Entscheidung, wie sie im Parlament ausgehandelt werden kann. Birgt sie in alternden Gesellschaften nicht auch die Gefahr, dass Gegenwartsinteressen dominieren, wo Entscheidungen nachfolgende Generationen berühren? Erfahrungen der Bundesländer sollten wir sorgfältig auswerten, bevor über Änderungen des Grundgesetzes nachgedacht wird.