Die Bedrohungen der Freiheit haben sich geändert
Frage: Herr Lindner, Sie sind als halbes Kind in die Politik gegangen, mit 14. Mit 21 saßen Sie schon im Landtag von NRW, als bis dahin jüngster Abgeordneter aller Zeiten. War das nicht ein bisschen früh?
LINDNER: Das war nicht am Reißbrett geplant. Ich hätte selbst nicht gedacht, dass ich so schnell ein Mandat kriege….
Frage: … bei der FDP ja auch keine Kunst!
LINDNER: Ein oft gehörtes, aber falsches Klischee. Ich musste mich gegen Gegenkandidaten durchsetzen, selbst für einen hinteren Listenplatz, von dem gar nicht klar war, dass er in den Landtag führen würde.
Frage: Sie wussten nichts vom Leben – und waren schon Volksvertreter. Ist Ihnen das wenigstens heute peinlich?
LINDNER: Ein Parlament ist kein Ältestenrat, sondern Teil der repräsentativen Demokratie. Ich war Student, ich kannte die Bildungsmisere aus der Praxis. Das war meine Motivation.
Frage: Hat man Sie ernst genommen?
LINDNER: Gehör muss man sich erarbeiten. Als Jüngerer müssen Sie Kompetenz besonders unter Beweis stellen. Sie können nicht mit grau melierten Schläfen überzeugen, sondern müssen sich in der Sache bewähren.
Frage: Graumeliert ist die neue Garde der FDP sicher nicht: Philipp Rösler, Daniel Bahr und Sie, Sie wirken alle so – schmächtig, beinahe zart. Keine gestandenen Mannsbilder, wie man das von Spitzenpolitikern kennt. Kann ein so junges Team sich im Berliner Profibetrieb überhaupt durchsetzen?
LINDNER: Warum nicht? Die FDP ist kein Mädchenpensionat. Wer da an die Spitze kommt, der hat sich die Position erkämpft, da können Sie sicher sein.
Frage: Sie sind nicht nur jung, sondern auch früh Berufspolitiker geworden. Muss nicht gerade jemand, dessen Programm die Marktwirtschaft ist, auch schon ernsthaft gearbeitet haben?
LINDNER: Kennen eigentlich alle Wirtschaftsjournalisten die Praxis der Wirtschaft, die Sie bewerten? Ich für meinen Teil war sieben Jahre selbständig, mit einem Unternehmen in der Werbebranche, das erfolgreich war.
Frage: Sind Sie sicher, dass das einer Recherche standhalten würde? Politiker neigen zum Verklären ihrer Anfänge.
LINDNER: Da bin ich entspannt. Es war kein Milliardenkonzern, aber ich habe noch als Schüler ein ordentliches Gewerbe gegründet. Ich habe mich bei Etats gegen etablierte Agenturen durchsetzen müssen, zum Beispiel bei regionalen Telefongesellschaften. Während der Internet-Euphorie war ich zeitweise auch an einem IT-Unternehmen beteiligt, das aber nur lehrreich war. Also: Ich kenne Erfolg und das Gefühl, wenn man sich gegen Marktentwicklungen nicht behaupten kann. Reicht Ihnen das?
Frage: Nicht schlecht. Warum trauern trotzdem vielen den FDP-Urgesteinen wie Otto Graf Lambsdorff nach?
LINDNER: Lambsdorff ist ein Vorbild. Er war Ordnungspolitiker, wollte einen klaren staatlichen Rahmen, innerhalb dessen aber nicht Politiker rumfummeln, sondern Marktgesetze wirken. Gleichzeitig hat er sich für Menschenrechte eingesetzt, in Tibet beispielsweise. Lambsdorff war gerade heraus, er brauchte nicht den Applaus des Tages. Deshalb haben ihn auch seine Gegner respektiert. Das ist für mich ein Idealbild der FDP.
Frage: Dieses Komplettprogramm wird der FDP ja weithin nicht mehr zugebilligt, sondern eine Verengung auf Wirtschaftsthemen beklagt. Noch enger: auf Klientelpolitik. Für Hotelbesitzer beispielsweise, denen Sie die Mehrwertsteuer gesenkt haben.
LINDNER: Dann lade ich Sie ein, mit mir über das große Ganze zu reden. Über Chancenpolitik. Wie aus einem Umverteilungs- ein Aufsteigerstaat wird. Die FDP ist die einzige Partei, die Respekt vor Privatsphäre und Privateigentum hat.
Frage: Das sagen die anderen doch auch! Vielleicht ist das ja generell das Problem der FDP, dass die ganz grundsätzlichen Sachen allgemein anerkannt sind. Früher brauchte man die FDP, weil die Sozis zu links waren und die CDU zu katholisch war. Beides ist lange vorbei.
LINDNER: Oh, da sehe ich aber weiter kräftige Unterschiede. Außer der FDP sind alle schnell bereit, aus vorgeblich besten Motiven in die Freiheit einzugreifen. Nur wir haben eine tiefe freiheitliche Tradition.
Frage: Aha, die guten alten Klassiker. Was sagen Ihnen die noch? John Locke, der Prophet des Eigentums? David Hume, der Aufklärer? John Stuart Mill, der Vorkämpfer für die Freiheit?
LINDNER: Die geben mir Orientierung. Die FDP ist aber nicht das Archiv des Liberalismus, zunächst wollen wir den Alltag der Leute einfacher machen. Aber wir verfügen über einen Kompass von Prinzipien, die sich historisch bewährt haben. Wir lösen Probleme aus der Perspektive der Freiheit und im Vertrauen auf erwachsene Menschen. Wir wollen die offene Gesellschaft, in der jeder etwas aus seinem Leben machen kann.
Frage: Jeder schafft das nicht.
LINDNER: Ich weiß. Eine liberale Gesellschaft braucht Startgerechtigkeit, da gibt es noch viel zu tun. Aber Chancen sind keine Garantien. Wir müssen respektieren, dass die Menschen unterschiedlich sind. Ungleichheit unverhältnismäßig zu nivellieren oder individuelle Lebensentwürfe zu zensieren, widerspricht einem freiheitlichen Menschenbild. Das ist ein offener Ansatz. Sie haben an die Klassiker erinnert, hier nenne ich Karl Popper oder Friedrich August Hayek.
Frage: Kritiker werfen Ihnen vor, dass Sie alle Regeln schleifen wollen …
LINDNER: … und genau das wollen wir nicht! Es gibt nur einen Unterschied zwischen klaren Regeln und bürokratischer Reglementierung. Erst der fokussierte, verständliche Staat ist stark und wirksam. Wir Bürger brauchen Regeln, die uns vor dem Machtdiktat eines anderen schützen. Aber wir brauchen keine Bevormundung durch Politiker, die uns ihren Willen vorsetzen und trotzdem genauso fehlbar sind wie wir selbst.
Frage: Ich habe dafür viel Sympathie. Allerdings frage ich mich zunehmend, ob die Bürger diese Freiheit überhaupt wollen. Hier eine Schutznorm, da eine Subvention, das will doch kaum noch jemand missen?
LINDNER: Da ist ein schleichender Mentalitätswandel im Gang. Freiheit ist wie ein Muskel. Werden Freiheitsräume eingeschränkt, dann geht später auch Freiheitsfähigkeit verloren. Aus diesem Teufelskreis müssen wir ausbrechen.
Frage: Aber ist es noch zeitgemäß? Brauchen wir in der Globalisierung nicht mehr Staat, als früher gedacht? Als die liberalen Klassiker lebten, ging es um die Machtbegrenzung des Absolutismus. Heute suchen viele Bürger inmitten einer entfesselten Welt nach Sicherheit.
LINDNER: Wir brauchen nicht pauschal mehr oder weniger Staat, aber fraglos einen anderen Staat. Die Bedrohungen der Freiheit haben sich geändert. Der Einzelne steht fast machtlos vor Privatgiganten wie Google oder den Dynamiken des Finanzmarkts, da braucht er den Schutz des Rechtsstaats. Internet und Marktregulierung sind globale Aufgaben. Der Staat kann aber weiter selbst zur Bedrohung werden, wenn er in die private Lebensführung eingreift. Wir sind zum Beispiel nicht frei zu entscheiden, wann wir in den Ruhestand gehen. Nobelpreisträger werden gegen ihren Willen gezwungen, in Pension zu gehen; das würde in Amerika nicht passieren.
Frage: Also kein gesetzliches Rentenalter, gut. Was noch?
LINDNER: Jeder kennt Alltagsbeispiele. Millionen gesetzlich Versicherte erhalten keine Auskunft, was mit ihnen bei der ärztlichen Behandlung geschehen ist und was das kostet. Sie nehmen die Leistungen und beklagen sich, wenn sie selbst zuzahlen müssen. Ein freiheitliches System würde über die Kosten informieren und ließe mehr Wahl, wie man sich absichern will. Ein solches System nähme die Menschen ernst.
Frage: Interessantes Beispiel. Sie stellen seit Jahren den Gesundheitsminister. Zeit genug, Freiheit nicht nur zu predigen, sondern zu leben.
LINDNER: Jahre? In den gut 20 Monaten liberaler Gesundheitsminister ist schon viel passiert. Und wir arbeiten weiter an mehr Transparenz.
Frage: Reicht Transparenz? Muss der Sozialstaat nicht auch korrigiert werden, weil er zu teuer geworden ist?
LINDNER: Ich verstehe Ihre Frage, aber für mich ist erst die Wirksamkeit des Sozialstaats wichtig, weil er dann den Menschen besser dient und zugleich bezahlbar bleibt. Die Gründer der sozialen Marktwirtschaft wollten, dass eine prosperierende Wirtschaft den Sozialstaat überflüssig macht, weil immer weniger Menschen unterstützt werden müssen und die verbleibenden Bedürftigen dafür großzügiger. Wilhelm Röpke warnte vor dem Staat als Tag und Nacht arbeitenden Pumpwerk der Einkommen. Genau so läuft es heute. Statt die Menschen aus Abhängigkeit zu befreien und in Eigenverantwortung zu setzen, Arbeit zu finden, begnügt sich der Wohlfahrtsstaat oft damit, Arbeitslosigkeit erträglich zu machen. Das so genannte Normalarbeitsverhältnis von früher kann aber nicht mehr alleiniger Orientierungspunkt sein.
Frage: Und das heißt?
LINDNER: Zum Beispiel, dass wir im kommenden Jahr die Zuverdienstgrenzen für Arbeitslose weiter erhöhen. Das kostet den Sozialstaat zwar zuerst Geld, aber damit wird Arbeit und nicht Arbeitslosigkeit gefördert. 90 Prozent jener, die hier zuverdienen, brauchen nach zwei Jahren gar kein Arbeitslosengeld mehr. So meine ich das: keine Kürzungs-, sondern eine Effizienzdiskussion.
Frage: Sie nennen das mitfühlenden Liberalismus. Das ist Marketing, oder?
LINDNER: Nein, das ist eine Akzentsetzung, um auf die ganze Breite des Liberalismus aufmerksam zu machen. Schon Adam Smith hat auf den Markt gesetzt, aber dabei ethische Gefühle vorausgesetzt.
Frage: Dumm nur, dass dieser Gedanke kaum rüberkommt. Stattdessen gelten Sie, ich wiederhole mich, als Lobby-Organisation für den besser verdienenden Mittelstand.
LINDNER: Deshalb argumentieren wir hier. Liberalismus ist keine Großunternehmerphilosophie und keine Kleinhändlerideologe; hat Karl-Hermann Flach gesagt, mein großer Vorgänger im Amt des Generalsekretärs. Es geht um die Einstellung, nicht um die Stellung in der Gesellschaft. Wir wollen die Menschen zu einer unternehmerischen Mentalität ermutigen, zum Willen, die eigene Biografie in die Hand zu nehmen. Das kann der Facharbeiter genau so wie die Krankenschwester oder der Vorstandschef.
Frage: Also nicht mehr „Mehr netto vom brutto“ für die Mittelschicht?
LINDNER: Das bleibt eine Frage der Fairness. Die hart arbeitende Mitte vom qualifizierten Facharbeiter bis zur jungen Ingenieurin ist solidarisch, muss aber vor Überforderung geschützt werden. Das ist aber nur ein Aspekt unserer Agenda neben Bildungschancen für alle. Neben dem Schutz der Privatheit im Internet oder einem Umweltschutz ohne grünliche Detailsteuerung. Aber wissen Sie, welches Zukunftsthema wir noch gar nicht angesprochen haben?
Frage: Nein, welches?
LINDNER: Was hält unsere Gesellschaft zusammen, wenn in Zukunft Millionen Deutsche mit Zuwanderungsgeschichte keine Christen sind? Da hilft uns keine Leitkultur, die exklusiv auf das christliche Menschenbild verweist. Auch keine Sarrazin'sche Genpolitik oder Grüne, die den Menschen Alltagsbeobachtungen von nicht gelungener Integration ausreden wollen. Die Antwort sind republikanische Tugenden im Sinne des liberalen Verfassungspatriotismus.
Frage: Und das heißt?
LINDNER: Liberale bewerten nicht nach Herkunft, sondern nach Leistung und Zielen. Wer Verantwortung für seinen Lebensunterhalt übernimmt, wer unsere Rechtsordnung achtet, der soll bei uns nach seiner Facon glücklich werden. Rabatt bei den Pflichten gegenüber der Gesellschaft bekommt niemand. Das gefällt weder den Linken noch den Konservativen. Sie haben nach Alleinstellungsmerkmalen der FDP gefragt: Hier ist noch eins.
Die Fragen stelle Marc Beise.