Deutschland nicht zum Status vor Corona zurückführen

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Lesedauer: 6 Minuten

Herr Lindner, wie geht es unserem Land gerade?

Lindner: Die Erleichterung, dass wir gut durch die Gesundheitskrise gekommen sind, mischt sich mit Sorgen um die Folgen der Bekämpfung der Pandemie. Wir müssen verhindern, dass aus der Gesundheits- eine Wirtschaftskrise wird. Unter dem Strich hat sich aber gezeigt, dass die Menschen sehr verantwortungsbewusst sind. Vieles ging ohne Bürokratie und mit praktischer Solidarität im Alltag. Das ist die gute Nachricht. Leider wurden auch Defizite enthüllt, zum Beispiel bei der Digitalisierung und der Handlungsfähigkeit des Staates beim Bevölkerungsschutz. Die Aufgabe ist, die entdeckten Stärken zu nutzen und die Defizite abzustellen. Die Politik sollte Deutschland nicht zum Status vor Corona zurückführen, sondern dafür sorgen, dass unser Land nach Corona besser ist als zuvor.

Wie geht besser? Was sind die Kategorien dafür?

Lindner: Die Digitalisierung sollte erstens von einem Standortnachteil zu einem Standortvorteil geworden sein. Ich stelle mir zum Beispiel eine Offensive für die Digitalisierung der gesamten öffentlichen Verwaltung vor. Zweitens wurde deutlich, dass wir fähig zur Improvisation sind. Spontan war vieles aus dem Homeoffice und per Videokonferenz möglich. Davon sollten wir lernen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen sollten dauerhaft mehr ermöglichen als verhindern. Und drittens ist es Zeit, sich den staatlichen Kernfunktionen zu widmen. Vor Corona wurde viel lieber über bedingungsloses Grundeinkommen und anderes diskutiert. Wir sollten uns stattdessen der Leistungsfähigkeit des Staates bei Bildung, Gesundheitswesen, Justiz, Blaulichtorganisationen und Bundeswehr widmen.

Bieten Disruption und Krisen die Chancen für Modernitätssprünge?

Lindner: Ja. Eine solche Tiefenkrise, die den Alltag der Menschen berührt, kann den Pfad von Entwicklungen ändern. In der täglichen Routine verhindern das Veto-Spieler und Gewohnheiten. Jetzt ist die Zeit für neue Aushandlungsprozesse in der Gesellschaft. Das ist eine Chance.

Wie geht es der Konjunktur?

Lindner: Viele Wirtschaftsweise halten eine rasche Erholung für möglich, also wie ein „V“. Das passiert aber nicht von allein angesichts der Exportausfälle und einer drohenden Pleitewelle. Dazu müssen wir jetzt die richtigen Maßnahmen einleiten. Im Kern geht es darum, dass wir die Zukunfts- und Wettbewerbsfähigkeit stärken. Bitte keine Verteilungspolitik und Subventionen.

Funktioniert das Kraftpaket?

Lindner: Das wünsche ich uns, dessen bin ich mir aber nicht sicher. Um mit etwas Positivem zu beginnen, die Wasserstoffstrategie beispielsweise ist richtig und überfällig. Allerdings besteht sie überproportional aus Prüfaufträgen, obwohl Handeln nötig ist. Ich kann auch nicht verstehen, dass Wasserstoff in der Form der Brennstoffzelle für die Zukunft des Autos ausgeschlossen wird. Im Grunde wird auch durch andere Entscheidungen vorzeitig der batterieelektrische Antrieb fixiert. Synthetische Kraftstoffe und Wasserstoff, die viele Arbeitsplätze sichern könnten, werden ausgeblendet. Wir sollten eine grundlegende Entscheidung über einen Technologiepfad nicht im Jahr 2020 treffen, sondern offen bleiben. Ich fahre selbst ein Auto mit Brennstoffzelle und sehe Potenziale. Statt also einseitiger Festlegungen und Subventionen wäre eine Initiative besser gewesen, dass auch synthetischer Kraftstoff und Wasserstoff in den Flottenzielen beim CO2 berücksichtigt werden. Das wäre ein Technologieschub.

Wumms … Was soll eigentlich diese Kindergartensprache in der Politik?

Lindner: Ich ahne, was Sie meinen. Momentan wird mir aber zu oft über solche Meta-Fragen gesprochen als über Substanz. Deshalb überlasse ich diese Debatten anderen, weil es Dringlicheres gibt.

Schade.

Lindner: Sie halten das aus.

Wurden die Selbstständigen in diesem Paket vergessen?

Lindner: Die Solo-Selbstständigen, Freiberufler und Freelancer haben offenbar keine Lobby. Mitunter werden diese Existenzen auch pauschal als prekär betrachtet oder unter Scheinselbstständigkeit eingeordnet. Ich erinnere nur an die bürokratischen Bestimmungen zu den Werkverträgen. Das ist bedauerlich, denn schöpferische und hoch qualifizierte Leistungen brauchen wir. Das ist ein Lebensmodell, das mir sympathisch ist. Hier wären erleichterte Hilfen zum Lebensunterhalt und eine Art negative Gewinnsteuer sinnvoll, die aktuelle Verdienstausfälle mit bereits gezahlten Steuern verrechnet.

Müsste das nicht die FDP leisten, diese Art von Interessenvertretung der Solo-Selbstständigen?

Lindner: Warum sprechen Sie im Konjunktiv? Tatsächlich haben wir mit unserer Regierungsbeteiligung in Nordrhein-Westfalen genau das konkret versucht. Die Bundesregierung hat die Bundesmittel dafür aber nicht einsetzen wollen. Das ist bedauerlich. Deshalb sollte ein Projekt für die nächste Bundesregierung sein, das Steuer- und Transfersystem stärker zu verzahnen, damit Selbstständige im Bedarfsfall leichter Unterstützung erhalten. Wir haben dazu unter dem Namen „Bürgergeld“ ein Konzept vorgelegt.

Warum hat die FDP so wenig Punch in diesen wirtschaftspolitischen Debatten?

Lindner: Das sehe ich anders. Längst wachsen die Zweifel, ob der gewaltig wachsende Staatseinfluss auf die Wirtschaft von Dauer ist und ob er uns Wohlstand kostet. Um es klar zu sagen, wir wollen private Haftung und wirtschaftliche Freiheit erhalten. Von Planwirtschaft des Klimapakets über Mietendeckel bis zur Vermögensabgabe haben wir da viele Versuche, die Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung zu ändern. Auch die Wirksamkeit der Programme ist offen. Viele fragen sich doch wie wir, ob die vielen Milliarden Euro neue Schulden für die richtigen Zwecke aufgenommen werden. 20 Milliarden Euro für eine befristete Senkung der Mehrwertsteuer beispielsweise sind viel Geld für große Bürokratie und einen zweifelhaften Effekt.

Aber die aktuellen Umfragen, zum Teil unter fünf Prozent, müssen Sie doch als Leistungsverliebten enttäuschen. Oder?

Lindner: Eine Umfrage der „Bild am Sonntag“ hat dieser Tage zum ersten Mal seit zehn Jahren eine schwarz-gelbe Mehrheit und uns bei acht Prozent gesehen. Das habe ich mit Gelassenheit aufgenommen. Die politische Landschaft ist im Fluss. Die FDP hatte eine Reihe von Nebendebatten, die den Blick auf unsere Sachbeiträge überlagert haben. Sicher gibt es momentan auch eine starke Fixierung auf den Staat. Das finde ich eher motivierend, unsere Positionen vernehmbar zu machen.

Was wäre Ihr Programm gewesen?

Lindner: Erstens öffentliche Investitionen für Digitalisierung, Infrastruktur und Schulen. Zweitens keine befristete Reduzierung der Mehrwertsteuer, sondern eine wachstumsorientierte Steuerreform, die unter anderem den Mittelstandsbauch reduziert und den Solidaritätszuschlag für alle abschafft. Wir könnten ein strukturelles Defizit, nämlich die schon vor Corona im internationalen Vergleich zu hohe Belastung für Menschen und Betriebe, jetzt beseitigen. Das stärkt privaten Konsum, private Vorsorge und private Investitionen. Uns fehlt ja nicht die inländische Kaufkraft für mehr Wachstum, sondern die Zuversicht. Und drittens müssen wir bürokratische Bremsen lösen. Das kostet nichts, bringt aber viel. Vor allem im Planungs- und Genehmigungsrecht machen wir es uns selbst unnötig schwer.

War es ein Fehler, zu schnell in den krassen Lockdown zu gehen, wie der Virologe Hendrik Streeck das sagt?

Lindner: Das weiß ich nicht, aber seine Argumente müssen wir prüfen. Das Parlament sollte alle Entscheidungen in einem Sonderausschuss auswerten. Nicht im Sinne einer Anklage von Frau Merkel, Herrn Söder oder Herrn Spahn wie bei einem Untersuchungsausschuss, sondern, um gemeinsam zu lernen. Ich selbst habe in einer Rede für ein kontrolliertes Runterfahren des Landes im Deutschen Bundestag geworben, als in Bayern noch alles offen war. Das fällt einem Liberalen schwer, aber die Alternativen waren aufgrund des geringen Kenntnisstandes und der unzureichenden Vorbereitung des Staates nicht verantwortbar. Tatsächlich war die FDP aber auch die erste Fraktion, die Zweifel an der Verlängerung des Zustandes im Parlament artikuliert hat. Die Kinder, Jugendlichen und Familien wurden wegen geschlossener Schulen und Kitas zu lange belastet, Gastronomie, Handel und Bildungswesen haben zu viel Zeit verloren.

Warum haben so viele Deutsche kein Problem, ihre Freiheit fast komplett abzugeben?

Lindner: In der Krise orientieren sich Menschen an starken und strengen Entscheidern. Wenn Ängste wachsen, sind viele bereit, auch auf Grundrechte zu verzichten. Die Partei des strengen und schützenden Staates, die Union, hat daher als einzige profitiert. Wir haben uns dennoch für Bürgerrechte wie die Berufs- und Versammlungsfreiheit sowie das Recht auf Bildung eingesetzt. Es muss ja immer hinterfragt werden, ob ein Grundrechtseingriff des Staates verhältnismäßig ist. Oder ob es ein milderes Mittel gibt. Mit Abstands- und Hygieneregeln sowie regionaler Herangehensweise hätte es sie früher gegeben. Dafür sind wir teilweise kritisiert worden. Manche unserer Unterstützer wechselten zur Union. Dennoch ist es richtig, denn zumindest eine Stimme im Parlament muss es geben, die diese Fragen stellt. Für uns ist das eine Frage der Überzeugung. Die Grünen waren in Bürgerrechtsfragen keine Unterstützung während der Pandemie.

Warum wurden die Schulen und Kitas so lange vergessen?

Lindner: Es ist leichter, eine Kita oder eine Schule zu schließen, als sie danach wieder zu öffnen. Denn bei der Öffnung gibt es unverändert Risiken, die nicht jeder Minister bereit ist zu übernehmen. In Nordrhein-Westfalen haben unsere Minister Yvonne Gebauer und Joachim Stamp diese unpopulären Entscheidungen getroffen. Ich unterstütze das. Örtlich wird es vielleicht zur Schließung einzelner Einrichtungen kommen, wenn es ein akutes Infektionsgeschehen gibt. Dieses Restrisiko rechtfertigt aber nicht mehr, Kindern und Jugendlichen Förderung vorzuenthalten. Die Situation in vielen Familien war nicht mehr zumutbar. Homeoffice ist gut, aber zusammen mit Homeschooling kann es zur Belastungsprobe werden. Die letzten Wochen sollen uns auch eine Lehre sein, dass wir endlich mehr tun für die Digitalisierung der Bildung und zur Reform des Bildungsföderalismus, damit wir gemeinsame Standards für die 16 Länder erhalten.

Kommen wir zu etwas ganz anderem: Die „New York Times“ hat ihren Meinungschef gefeuert, der „Spiegel“ fordert das Ende des neutralen Journalismus: Wie gefährdet ist ein freier, neutraler Journalismus gerade? Und wie wichtig sind Medien Ihrer Meinung nach für eine liberale Demokratie?

Lindner: Für die Demokratie sind die Meinungsfreiheit und die Meinungspluralität entscheidend. Die Neutralität des einzelnen Journalisten und des einzelnen Mediums ist ein hohes Ideal, das schwer realisierbar ist. Wir sind Menschen mit Vorlieben und Überzeugungen. Das System insgesamt muss aber ausgewogen sein und offenen Diskurs beleben. Ich finde nichts bedauerlicher als Kommentare und Berichterstattung, die gleichgerichtet wie Schwärme sind. Ein paar sollten gegen den Strom schwimmen.

Alle Initiativen der FDP-Fraktion zur Bewältigung der Corona-Krise findet Ihr hier.